Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
verdrehen, um sich hinterher über den verliebten Krüppel lustig zu machen? Er fühlte, dass Richlinds Augen auf ihm ruhten, doch wollte er ihr den Triumph nicht gönnen, in der Tat so dumm zu sein, auf ihre alberne Koketterie hereinzufallen.
Derweil sich die anderen angeregt unterhielten und Gunter Xander mit zornigem Blick auf Verlobte und Regisseur stumm wie ein Stockfisch den Saal verließ, stand Erdmann Jansen auf und meinte zu Dünnleder, scheinbar voll mit seinen Gedanken beim Stück: „Du entschuldigst mich, ja, ich will mir nur noch ein paar Notizen machen für nachher.“ Damit verschwand er hinter dem Vorhang und begab sich zur Garderobe, wo zwischen Kostümen und Schminktöpfen Ruhe um ihn herrschte; auf seinen Sessel gesunken, hockte er da, froh, mit sich und der Welt allein zu sein.
Der Schauspieler und Regisseur hatte schon vor geraumer Zeit seinen Werdegang aufgezeichnet, der an dieser Stelle – von ihm selbst – dokumentiert werden soll: „Mein Leben hatte damit begonnen, dass meine Mutter an mir gestorben war. Das war geschehen in den späten Abendstunden des 1. Februar 1957 in der Hinterhauswohnung Kopernikusstraße 12 des Bauern und Schreinergesellen Alois Jansen, der mir am Morgen noch ins Stammbuch geschrieben hatte, ich sei sein Beitrag für die strategische Konzeption des Sieges der sozialistischen Produktionsverhältnisse bei schneller Steigerung des Ausstoßes und Schaffung einer leistungsfähigen Volkswirtschaft, wie von der 30. Tagung des ZK der SED soeben beschlossen, während meine Mutter sich nach zwanzig Jahren vergeblichen Hoffens endlich von Gott in ihren Gebeten erhört und ihre Ehe mit einem Kind gesegnet sah.
An ihr nagte die Tatsache, dass ihr Mann ausgerechnet zu dieser Zeit seine Selbständigkeit aufgegeben und sich einer Produktionsgenossenschaft angeschlossen hatte. Vielleicht dass trotzdem alles gutgegangen wäre, wenn sie in der nahe gelegenen Poliklinik unter ärztlicher Aufsicht entbunden hätte; aber sie hatte ja immer höllische Angst gehabt vor Spitälern, aus ihrem Heimatdorf Niklaskirchen in Pomesanien war sie es gewohnt, dass die weise Frau die Kinder holte. Und so wollte sie es auch in ihrem neuen Zuhause halten und den Kleinen in die Wiege legen, die ihr Alois eigenhändig gefertigt hatte.
Während sich also meine Mutter seit den frühen Morgenstunden mit mir herumquälte, gedachte mein Vater den Sozialismus aufbauen zu helfen und Errungenschaften in die Wege zu leiten. Am Nachmittag, derweil sich die Genossen in nicht enden wollenden Klatschen narzisstisch feierten, herrschte Ruhe im Vorderhaus, und die Stille wurde nur in Abständen unterbrochen vom Stöhnen der Schwangeren, bis endlich um die zehnte Stunde ein jämmerliches, verschrumpeltes, winziges Etwas seine ersten Schreie ausstieß. Doch bald darauf, während vorn in der Gastwirtschaft unaufhörlich gesungen und gefeiert wurde, musste Alois Jansen totenbleich durch die Toreinfahrt auf die Straße laufen, um von der Poliklinik Arzt und Rettungswagen herbeizuholen, da plötzlich auftretende Blutungen von der Hebamme nicht mehr gestillt werden konnten. Da war es bereits zu spät gewesen: Als sie ankamen, hatte das Herz der gerade vierzigjährigen Irmgard Jansen zu schlagen aufgehört.
Mein Vater hatte nicht wieder geheiratet. Er und seine hingeschiedene Frau waren sich darin einig gewesen, dass ihr Kind es einmal besser haben sollte im Leben als sie selber. Da es aber ganz anders war und auch anders kommen würde, musste ich diese Notizen niederschreiben: Wie ich diese Zeit miterlebte und was mir bekannt ist. Wenn wir politisch und wirtschaftlich scheitern, so werden zumindest einstmals meine Kinder erfahren, wie es in Wahrheit war.
Als Schüler bereits habe ich als Einziger lautstark protestiert, auch als sie den unbequemen Dichter Biermann ausbürgerten. Ich unterzeichnete: `Eingedenk des Wortes aus Marxens 18. Brumaire, demzufolge die proletarische Revolution sich unablässig selbst kritisiert, müsste unser sozialistischer Staat im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbequemlichkeit gelassen nachdenkend ertragen können.´ Und frage mich bis heute: Ist nicht die am meisten anachronistische Gesellschaftsform diejenige, die sich selbst nicht am Leben halten kann?
Weitere Proteste – in Wort und Schrift und Kunst – folgen.
Ich habe Angst vor dem Gefängnis, nicht vor dem Strafvollzug schlechthin, Gott bewahre! Aber als überzeugter Sozialist in einem
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