Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
Linden gegenüber der Deutschen Staatsoper, die er jedes Mal – in Erinnerung an die Freischütz -Aufführung – mit scheuer Ehrfurcht betrachtete, sich das Atelier des privaten Fotografen Heinrich Collisy befand. Die Anspielung der Mutter indes bezog sich auf die immerwährende Suche der Staatsbürger dieses Landes nach dem legendären Konsumentenparadies, gelegen irgendwo zwischen Kap Arkona und Klingenthal, jedoch bisher niemals lokalisiert, hingegen zigtausendfach beschworen in der Formel eins der Republik: „In Kürze gibt´s...“
In beiden großen Schaufenstern des Onkels freilich waren die Porträts der Koryphäen von Oper und Schauspielhaus ausgestellt: Das erste stand ganz im Zeichen des Gastspiels der Bukarester Staatsoper, also alles genauso interessante wie unbekannte Charakterköpfe, einschließlich des Konterfeis des großen Conducators und Titans der Titanen Nicolae Ceausescu, während das andere – quasi als Kontrastprogramm – zu Gustavs Erstaunen beherrscht wurde von einer großen Fotografie der verehrten Diva von der DEFA, der Frau des Arminius Müller-Eisner; es war eine wohlgelungene, naturgetreue Schwarzweißaufnahme in rötlicher Tönung, die in einem wirkungsvollen Kontrast stand zu ihrem vollen Blondhaar. Gustav nahm sich vor, den Onkel um eine kleine Reproduktion des Fotos vom großen Star Margot Sonntag und Aushängeschild der Republik zu bitten.
Auf den elektronisch-melodischen Dreiklang der Entréeglocke teilte sich eine rote Samtportiere, und lautlos tauchte ein blasses Männchen auf mit Pickelhaut und brünettem dünnem Haar, das exakt gescheitelt war. Es trug eine Halbbrille, die es abnahm, nachdem es Gustav mit einem langen Blick gemustert hatte, um sich mit einem feinen Taschentuch seine scheinbar entzündeten Augen zu tupfen. Dabei fragte es – in Anbetracht der Jugend des Besuchers mit ausgesuchter Höflichkeit – nach dessen Wünschen. Gustav, soeben noch durch den Anblick der Berühmtheiten quasi auf eine höhere Stufe gehoben, empfand diese verletzend-aufdringliche Behandlung als Beleidigung seines männlichen Künstlerstandes, dem er alsbald angehören würde, und fragte daher prononciert und ein wenig abweisend nach seinem Onkel, Herrn Heinrich Collisy.
„Ach so!“ flötete die Person freundlichst und um keinen Deut zurückhaltender, „aber da müssen Sie schon mit mir vorlieb nehmen und warten, bis er kommt. Wenn Sie, bitteschön, Platz nehmen wollen.“ Und wies mit gezierter Geste auf einen der kostbaren, mit Gobelin bezogenen, fast echten Rokokosessel neben einem kleinen marmorierten Kunststofftisch mit Fotoalben. Da Gustav den Menschen völlig ignorierte, verschwand dieser schließlich ebenso lautlos durch den Vorhang, wie er aufgetaucht war.
Unterdessen hatte Gustav Muße, sich in dem pompös eingerichteten, auf Weststandard getrimmten Vorraum des Ateliers umzusehen. Hier sah es aus wie im Museum: Lauter Perser lagen auf dem Parkettboden, neben kostspieligen Elfenbeinfiguren stand das berühmte Affenorchester aus Meißener Porzellan unter ein paar Kopien von Bildern Otto Holstein-Niemeyers.
In einer Ecke befand sich auf einer griechischen Marmorsäule eine janusköpfige Gipsbüste: eine Seite Marx, die andere Lenin.
Gustav schüttelte den Kopf beim weiteren Umsehen, als sein Blick auf ein großes Frauenporträt ohne Rahmen fiel, das anscheinend zur baldigen Ausstellung im Schaufenster bereitgelegt war. Im selben Augenblick hatte er die Diva auf dem Bild draußen vergessen und verhielt verblüfft den Atem – zutiefst angerührt von der anmutigen Ausstrahlung des Bildes: ein blässliches schmales Antlitz, von goldblondem Haar umrahmt, ausdrucksstarke blaue Augen, von dunklen Wimpern überschattet, im Ganzen mit seltsam abwesender, fast leidender Miene, aufrecht sitzend auf einem gedrechselten Stuhl, die Hände nebeneinander im Schoß liegend. Die junge Dame trug ein weit ausgeschnittenes Kleid aus verwaschenem Jeansstoff, und dort, wo die Konturen der mädchenhaften Brüste in die weiche Linie ihres Schwanenhalses übergingen, prangte ein glänzend-blauer, weißgoldgefasster Saphir inmitten eines Brilliantenkranzes.
An wen erinnert mich dieses Mädchen bloß? grübelte Gustav und übersah ob des jugendlichen Liebreizes den goldenen Ring an ihrem Finger. Plötzlich fiel es ihm ein: Während eines früheren Besuches bei Johannes, der gerade in der antiquarischen Göttlichen Komödie las, war Gustav unter den zahlreichen Bildern des Buches eines
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