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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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zermarterte sich das Gehirn, warum einige zehntausend Leute wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren mussten, ohne dass ihr Warnstreik einen nennenswerten Erfolg gezeitigt hätte. Widerstandslos war es nicht abgegangen, und es würde auch Nachspiele geben hier und da, weniger in der Hauptstadt als vielmehr in den sächsischen Bezirken; aber es würden lediglich spontane Verzweiflungsaktionen sein, die ihre Sache nicht schnell genug voranbrachten. Eins stand hingegen fest: Eine straffe Führung besaßen sie weniger denn je. Wie immer hat die Regierung den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund vorgeschoben, der ein Zehnpunkteprogramm aufgestellt hat, dessen einzelne Thesen sich zum Teil gegenseitig ausschlossen; dann haben wir uns auf der nächstniederen Stufe auf Verhandlungen eingelassen – ohne Rückgrat natürlich, was die Bonzen da oben sehr genau wissen. Und weil weite Teile der Opposition – zerstritten wie sie sind – nach und nach zum Kuschen gebracht wurden, können sie noch immer mit uns machen, was sie wollen.
    Nachdem das Auto weggefahren war, herrschte wieder Stille im Haus und auf der Gasse. Das diffuse Dämmerlicht des angebrochenen Tages, dessen dichte Bewölkung Regen versprach, drang durch die noch geschlossenen Rollläden. Janine seufzte tief: Jetzt hatte sie anlässlich der Herbstferien zwei Tage freigenommen, und anstatt auszuschlafen, lag sie hellwach im Bett und grübelte unentwegt. Die Kinder durchzubringen, war nicht so kompliziert; aber wie! Die Schule zum Beispiel. Sie musste daran denken, was für Schwierigkeiten sich ergeben hatten, Willi trotz Verleihung der Lessing-Medaille am Ende der zehnten Klasse mit der Durchschnittsnote Einskommaeins in der erweiterten Oberschule unterzubringen, die nach einem ungeschriebenen Gesetz den Kreisen der organisierten Werktätigen vorbehalten sein sollte und in der Angehörige der bekennenden Kirche nichts verloren hatten. Aber der begabte Junge wollte ja unbedingt ohne Unterbrechung weiterlernen und sein Abitur bauen. Schon mit zehn Jahren hatte er es sich in den Kopf gesetzt, auf die Universität zu gehen, um dann selbst Professor und Erfinder zu werden. Und Willi, ihr Mann, den sie den „großen Willi“ nannten, hatte seinen Junior von Anfang an darin unterstützt. „Wir Freiberufler haben schließlich das gleiche Recht auf Bildung wie die sogenannte Arbeiterklasse“, hatte der große Willi gemeint, „und bei der Begabung und den Topnoten, die der Junge erhält, müssten sie ihn eigentlich aufnehmen. Da werde ich meinen Kopf schon durchsetzen.“
    Und sie hatten es durchgeboxt. Gegen den Widerstand des Lehrerkollegiums wurde er aufgenommen, nicht zuletzt durch Fürsprache des stellvertretenden Direktors, den – genau wie den großen Willi – gemeinsame Erinnerungen aus der Jugendzeit mit dem Schulleiter verbanden.
    Aber wie schwer war es den kleinen Willi angegangen, dauernd gegen unbegreifliche Widerstände ankämpfen zu müssen. Er selbst hatte zu Hause kein klagendes Wort darüber verloren; erst Monate später hatte Janine von seinem Mitschüler Gustav Patzke, mit dem ihr Junge befreundet war, erfahren, dass der Studienrat für Deutsch und Staatsbürgerkunde und Inhaber des Märchenauges, also Träger des SED-Abzeichens am Revers, Felix Eichhorst, der als fanatischer Nonkonformistenhasser und „Hervorragender Aktivist“ in Wunderkunde, dem sogenannten „wissenschaftlichen Kommunismus“, mehr berüchtigt als berühmt war, den kleinen Willi schikanierte und es ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor der Klasse fühlen ließ, dass er in der erweiterten Oberschule nichts zu suchen hätte. Willi trug unbewusst zu seinen Schwierigkeiten bei, wenn er dann und wann nicht mehr anders konnte, als seine Meinung mit einem Bibelzitat zu untermauern oder gar die lächerliche Wunderkunde mit der Lehre von der unbefleckten Empfängnis zu vergleichen. Worauf Eichhorst wütend schnaubte und die Partei ins Spiel brachte, die erwiesenermaßen niemals in die Irre ginge. „So wie die Bibel doch recht hat“, hinterfragte der kleine Willi, „und der Papst empirisch unfehlbar ist?“ Welche Impertinenz ihm die Klassifizierung „unsicheres Element“ eintrug, die dann auch unsichtbar zwischen den Zeilen seines ersten Zeugnisses geschrieben stand: „Dank seines wiederholt eigenwilligen Verhaltens erfüllt er keineswegs immer diejenigen Normen, die an einen Schüler der Erweiterten Oberschule gestellt werden müssen.“ Mit der „Wunderkunde“ des

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