Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
sinnvoll zu gestalten, so dass sie sich nichts vorzuwerfen hatte. Von frühester Kindheit an aufwachsend in kleinbürgerlich-beschränkten Verhältnissen, schien ihr Lebensbereich vorgezeichnet: Ihr Vater sprach von schicksalhafter Epoche, ihre ein wenig bigotte Mutter nannte es Vorsehung des Himmels und die Obrigkeit predigte Klassenbewusstsein mit dem erhobenen Zeigefinger, gen Westen gerichtet auf die Ausbeutung der kleinen Leute durch die herrschende Schicht. Hier bei uns, dachte Janine grimmig, östlich der Elbe, ist es umgekehrt, eine Fessel mit anderem Vorzeichen quasi, die es gleichermaßen zu sprengen galt. Die Schule, die sie durchlaufen hatte, war stählern gewesen, was für sie von dem Moment an nicht mehr zählte, als sie sich bewusst wurde, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben.
Ausgangspunkt war weniger ihr Elternhaus in einer kleinen Straße von Hennigsdorf als vielmehr ihr Großvater, gelernter Stahlschmied und Meister der volkseigenen Industrie, Leiter des Meisterbereichs des dortigen Stahlwerks, dem sie allen Einflüssen der Staatspartei zum Trotz einen unverrückbaren Standpunkt zu verdanken hatte. Der frühere talentierte Fußballer wurde allgemein „Butter-Libero“ genannt, besonders seit er an der Seite seines Parteifreundes Karl Hamann kurz vor Weihnachten 1952 ins Gefängnis gegangen war, weil er öffentlich die wahren Gründe für die damalige Misswirtschaft und Versorgungskrise aufgezeigt hatte. Den „verspäteten Aprilscherz“ des „rührseligen“ Vereinigungsparteitages 1946 hatte der eingefleischte Sozialdemokrat nicht mitgetragen und sich ohne große Überzeugung den Liberaldemokraten zugewandt, wo er das Beste aus der von Anfang an verfahrenen Situation innerhalb des jungen Teillandes zu machen trachtete. Janine war damals gerade neun Jahre alt gewesen, als ihre Mutter mit ihr durch Ost- und Westberlin latschte, sich Schuhe bei Leiser kaufte für umgetauschtes Geld, um damit zu Demonstrationen für Einheit und gerechten Frieden in Deutschland zu gehen. Im Jahr darauf, am 17. Juni 1953, an ihrem zehnten Geburtstag, marschierte sie Seite an Seite mit dem Opa inmitten von Zehntausenden von Arbeitern, Bauern und den wenigen im Lande verbliebenen Selbständigen mit schwarzrotgoldenen Fahnen durch das Brandenburger Tor, um für freie Wahlen, den Rücktritt der Regierung und Generalstreik zu demonstrieren. Janine hatte wütende Bauarbeiterkolonnen gesehen und deren Verstärkung durch Männer in ladenneuen Maureranzügen, die aus Richtung Westberlin dazugestoßen waren. Sie hatte jugendliche Steinewerfer beobachtet gegenüber dem Haus der Ministerien, die vom Potsdamer Platz über die offene Grenze in die Leipziger Straße gekommen waren. Und ihr waren die brennenden HO-Kioske nicht entgangen und nicht die roten Fahnen, die in die Flammen geworfen wurden, allerdings keineswegs von den Stahlgießern aus Hennigsdorf, was sie nicht wenig erstaunte, aber nicht begriff. Auf den Transparenten war zu lesen gewesen: „Runter mit den Arbeitsnormen und HO-Preisen! Freie Wahlen jetzt! Weg mit der Regierung! Zulassung aller Parteien!“ Häufig war das Deutschlandlied zu hören gewesen, nicht selten „Brüder zur Sonne, zur Freiheit...“ erklungen.
Noch oft genug, wenn unter der Hand darüber diskutiert wurde, hatte Großvater mit sarkastischem Grienen von dem brennenden Zeitungskiosk des Parteiorgans Neues Deutschland zu erzählen gewusst, aber mit ernster Miene dann auch von der panischen Angst der Regierung Grotewohl, die sich unter dem Druck des damaligen Generalsekretärs der SED, Walter Ulbricht, genötigt sah, die allgemeinen Volksproteste in Blut zu ertränken, um sogleich – nicht zuletzt aufgrund einer Weisung Moskaus – durch partielles Einlenken die Wogen des Aufstands mit der Rücknahme der Normerhöhung, Inaussichtstellung einer verbesserten Versorgung mit Konsumartikeln und baldiger Freilassung eines Teils zu Freiheitsstrafen Verurteilter zu glätten. Aber erst die Julistreiks hatten den Rest der immer noch inhaftierten Kollegen zu befreien vermocht, was sich als der vorläufig einzige Erfolg aller monatelangen Aktionen herausstellte.
Ein lange währendes, verbissenes Kämpfen um ihre Bürgerrechte sollte weitergehen, und der 17. Juni war wie ein Gelöbnis für viele Menschen, auf dem Weg ihrer guten Sache bis zum siegreichen Ende unaufhaltsam weiter voranzuschreiten. Die Bilder aus dieser Zeit hatten sich Janine unauslöschlich für ihr ganzes Leben eingepflanzt; am Ende
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