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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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hiesigen Staatsbürgers blieb der Schüler jedenfalls auf Kriegsfuß stehen, weil Eichhorst ihm nun mal nicht glaubhaft vermitteln konnte, dass der Kapitalismus drüben außer langanhaltender, massenhafter Arbeitslosigkeit und permanenter Ausbeutung und Übervorteilung den Mitgliedern der Gesellschaft nichts Aussichtsreiches zu bieten hatte. Sehend deine Haltung, dachte der Junge, interessiert mich dein Unterrichtsziel nicht die Bohne.
    Ein andermal replizierte der Lehrer Eichhorst das von dem Jungen angeführte Matthäuswort von den Vögeln, die weder säten, noch ernteten oder sammelten und trotzdem von ihrem himmlischen Vater ernährt würden, mit dem Hinweis, dass nicht alle Elemente der Natur in Mendelejews Periodischem System vorgesehen seien, aber eben durch das Adjektiv „unsicher“ näher bestimmt werden könnten. Hätte Willi diese Äußerungen des Paukers daheim zur Diskussion gestellt, wäre er von seinem Vater gewisslich auf die in der BRD erschienene Erstausgabe von Reiner Kunzes Wunderbare Jahre verwiesen worden, die wortwörtlich die unsägliche Klassifikation eines pädagogischen Vorläufers von Eichhorst enthielt und in der Republik strafbedroht von heroischen Verkäufern als Bückware, also unter dem Ladentisch, feilgeboten wurde.  
    Ob auch die meisten seiner Mitschüler einen großen Bogen um den kleinen Willi machten, so stellten sie ihm doch immer mal wieder heimtückische Fallen, damit er sich blamieren sollte, und störten auf jede erdenkliche Weise seine Konzentration, um zu beweisen, dass er als borniertes Freiberuflerkind unmöglich den elitären Unterrichtsstoff bewältigen könne.
    Eines Tages, als ihm wieder einmal übel mitgespielt wurde, hatte ihn der Klassenprimus und erklärte Lehrerschaftsgünstling, der von seinen Mitschülern respektierte Johannes La Bruyère, unter seine Fittiche genommen und war den böswilligen Rädelsführern in den Arm gefallen, um sie obendrein in der Pause mit einer ordentlichen Tracht Prügel zu bedenken. Seither ließen die Kameraden Wilhelm Widulle in Ruhe. Oberlehrer Eichhorst hingegen nahm weiterhin jede sich bietende Gelegenheit wahr, ihn hart ranzunehmen, was lediglich bewirkte, dass Willi sich um so verbissener auf jede Stunde Staatsbürgerkunde vorbereitete, um keine Antwort schuldig bleiben zu müssen. Aber auch im Deutschunterricht, auf den er sich nicht eigens präparieren musste, empfand er die verstohlen arbeitende Schere in seinem Kopf zunehmend als unerträglich.
    Dass er die Inquisition immerhin bewusst wahrnahm und sich ihr nicht innerlich beugte, stimmte ihn hoffnungsfroh, aber das angespannte Büffeln rächte sich an seinem schwächlichen Körper. Janine erinnerte den Tag, einen gewitterschwülen Sommermorgen, an dem Gustav Patzke den kleinen Willi vorzeitig aus der Schule heimbrachte, weil ihr leicht schwindsüchtiger Sohn ohnmächtig geworden war. Dieser Schwächeanfall hatte Janine alarmiert. Der magere Junge hielt sich gekrümmt, seine Brust war flach und eingesunken, so dass sie Tuberkulose argwöhnte. Die Ärzte, die schlecht honoriert im Lande verblieben, leisteten Fließbandarbeit, lernten aus schlechten Erfahrungen, die hauptsächlich ihre Patienten machten, und hatten den Anschluss an die moderne Medizin wohl längst verpasst, worunter wiederum die Kranken zu leiden hatten, die es gleichwohl willig hinnahmen, da sie es nicht besser verstanden. Medikamente zu verschreiben war müßig, da der Inlandsmarkt kaum wirksame Arzneien hergab, und der Rat, auf ausreichende, gesunde Ernährung zu achten, war teuer. Was kann sich unsereins schon für die paar Blechmark kaufen, die sie uns auf den Hungerlohn drauflegen wollen, dachte die Mutter verbittert. Da kann man von Glück sagen, dass wir wenigstens ein Stück Gemüsegarten hinterm Haus haben, mit dem sich der Willi zwar die größte Mühe gibt, von dem aber zur Erntezeit höchstens mit ein paar Sack Erdäpfeln zu rechnen ist, weil die Steckkartoffeln nichts taugen, wie der studierte Sohnemann erklärte.
    Von unten hörte sie Michaelas Kuckucksuhr die fortgeschrittene Tageszeit melden: Punkt zehn. Sie fühlte sich zerschlagen, obwohl ihr Gehirn hellwach Gedanken produzierte, die sie nicht schlafen ließen: wie so oft in den letzten Tagen nach erregten Diskussionen auf den sich häufenden Versammlungen, denen vertrackte Verhandlungen folgten, die keine handfesten Ergebnisse zeitigten. Ergo kam sie dieses Grübeln ganz fruchtlos an, dabei pflegte sie ihr Leben aus Überzeugung

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