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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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würden sie zwei gespreizte Finger zum Siegeszeichen hochrecken und ein freiheitliches Lied anstimmen. Mit wachsendem Verstand erhielt das dreiundfünfziger Jahr freilich die Bedeutung wachsender Verbitterung.  
    „Wie gut, dass der Großvater das nicht mehr erleben musste“, hatte die Mutter gesagt, als sie am 13. August 1961 die Mauer mitten durch Berlin zogen und neben linientreuen Studenten, darunter bekennende Brechtianer mit kämpferischen Liedern, auch die Führer der Blockparteien unisono die fatalen Worte vom „antifaschistischen Schutzwall“ nachbeteten. Wie konnte es nur geschehen, dass so viele Leute allzu lange auf die geschönten Phrasen der dogmatischen Partei- und Staatsführung hereingefallen waren, dachte sie, und nur schwerblütig zu erkennen begannen, dass sie all die Jahre an der Nase herumgeführt worden waren? Wir Oppositionellen jedenfalls wissen, woran es zu unserem endlichen Sieg hapert: an einer geschlossenen Führung! Das haben die Läufe der Zeit deutlich genug gezeigt.
    Doch zuerst kam ja das Fressen, der freie Platz nun im HO-Restaurant, der vorher von gut rechnenden Gästen aus der Hartgeldzone okkupiert worden war, was auch nie mehr zugelassen werden sollte – für alle Zukunft nicht.
    Janine lag mit geschlossenen Lidern auf dem Rücken und fühlte, wie die bleierne Müdigkeit Oberhand zu gewinnen begann, weil die Natur ihr Recht forderte. Sie riss sich aus dem halben Hinüberdämmern, da sie sich erinnerte, den Kindern versprochen zu haben, das Drehrestaurant des Fernsehturms und den Tierpark zu besuchen. Die Aussicht auf eine volle Stunde Rundblick nach allen Himmelsrichtungen stimmte sie für einen Augenblick froh, bis sie an den Alltag dachte, der sie schon morgen eingeholt haben würde – verfluchte Zeiten noch eins!
Strenggenommen war Janine auch an einem Urlaubstag vollauf beschäftigt. Die kinderfreundliche Republik gestattete den Frauen gleichberechtigt die aktive Mithilfe beim alltäglichen Versuch der Planerfüllung genauso wie den unerfüllten Traum von der Steigerung des Bruttoprodukts und überließ ihnen darüber hinaus altväterlich zur Bewältigung der Arbeit in Haushalt und Familie die sogenannte Freizeit des Feierabends, des Wochenendes und des Erholungsurlaubs. Doch versprochen ist nun mal versprochen, und außerdem konnte es ihr wirklich nicht schaden, für ein paar Stunden ein wenig auszuspannen und von der Tristesse des grauen Alltags abzuschalten, um für eine Weile mit den Kindern jung zu sein.
    Ein heißer Tag würde es werden, die Sonne brannte schon wie im Spätsommer auf der Haut, und am Himmel war kein Wölkchen zu entdecken; Ingrid stellte es fest, als sie Rotkraut aus dem Gärtchen holte – zwei große Köpfe, da Tante Michaela mitessen sollte.
    „Mama, heute ziehst du aber die hellrosa Bluse an“, drängte sie, „seit meinem Geburtstag im Frühjahr hast du sie nicht wieder getragen.“
    Janine aber sträubte sich, weil ihr gar nicht recht nach heller Kleidung zumute war, und überhaupt: „Es passt nicht zu meinem Typ! Beim Geburtstag war es etwas anderes, da sind wir ja auch daheimgeblieben, aber auf der Straße...“ Lebhaft wurde sie überstimmt. „Na gut, meinethalben, ihr Quälteufel!“ Eine Spielverderberin war sie nie gewesen... Und als die Kinder sie mit den Worten: „Nun sieh doch selber, wie gut du ausschaust und wie viel jünger!“ vor den Spiegel schoben, wobei Michaela eifrig beipflichtete, musste Janine unwillkürlich ihr Spiegelabbild anlächeln. Ihr natürlicher dunkler Teint wirkte wie braungebrannt, da sahen manche Stubenhocker von Kollegen, die kaum aus der muffigen Fabrik und der versmogten Bernauer Industriesiedlung herauskamen, aus wie die Brüder und Schwestern des leibhaftigen Tods.
    Der kleine Willi trat neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. „Sehr gut siehst du aus, Mamma. Du solltest öfter helle Blusen anziehen mit deinem nussbraunen Teint.“ Damit legte er seine Wange an die ihre, zog eine Raubvogelgrimasse und platzte unvermittelt heraus: „He, seht mal alle her: Schauen wir nicht aus wie ein Bussardpaar?“
    Alles lachte, denn so unpassend war der Vergleich keineswegs: Janines Nase war wie die ihres Sohnes schmal und gebogen, was ihrem Antlitz einen Ausdruck energischen Durchsetzungsvermögens verlieh. Die kleine Eva hatte, von dem Gelächter angesteckt, aus Solidarität kurz mitgelacht, zog jetzt aber ein Schnütchen und fragte, indem sie alle der Reihe nach missbilligend ansah, ungeduldig in

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