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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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unabgelenkt den phantastischen Rundblick über Doppel-Berlin und das Brandenburger Land, der bei fünfzig Kilometer Weitsicht an diesem klaren Herbsttag in seiner Grenzenlosigkeit ebenso einmalig wie irrational erschien.
„An Weitblick hat es in teutschen Landen seit jeher gemangelt“, bemerkte der kleine Willi mit Evchen auf dem Arm.
    Janine warf ihm einen erstaunten Blick zu und nickte kopfschüttelnd, was den Jungen schmunzeln ließ. Nach knapp einer Stunde waren sie wieder unten an der U-Bahn-Station, um sich nach Friedrichsfelde zum Tierpark zu begeben.
Im Zoo empfing sie eine lärmende, hektische Betriebsamkeit, die Janine krampfhaft aufgeputscht anmutete. Der Kindertierpark war wie auch der Kinder-Zirkus mit dem Hinweis auf die Jahreszeit geschlossen, obwohl sicherlich die angespannte Versorgungslage im „real existierenden Sozialismus“ diesen Umstand herbeigeführt hatte. Dafür stand noch der anlässlich des Feiertages vom 7. Oktober aufgebaute Rummelplatz mit Los- und Wurfbuden, einem Karussell mit nostalgischen hölzernen Schaukelpferden, an denen der Lack abblätterte, sowie einer kleinen Geisterbahn. Ihre – privaten – Besitzer vollführten mit sich überschlagenden, heiser geschrienen Stimmen einen Heidenspektakel, um mittels in Megaphone gebrüllter Sprüche ihre Sensationen verheißenden Dienstleistungen anzupreisen. Eine einzige Fressbude verbreitete einen nicht unüblen Duft, doch auf dem Rost lagen nur frische fette Blutwürste, zum Teil geplatzt zu bizarren Gestalten verformt, auf die kaum jemand scharf war.
    Die kleine Eva zog ihre Mutter schnurstracks in Richtung der kleinen Manege von Pasewalds Hippodrom, in der ein halbes Dutzend Ponys nickend und apathisch im Kreise herumtrabte, derweil die kleinsten Reiter hinten von einem halbwüchsigen Jungen festgehalten wurden. Irgendwo in einer Ecke quäkte unsichtbar ein Musikautomat ein Kinderdiscopotpourri, zu dessen einförmigen Rhythmus die umstehende Schar Kinder mit ihren Müttern die Köpfe wippten. Zwischen die schrille Schlagermusik tönte ab und an von der gegenüberliegenden Losbude her ein kleines, aber leistungsfähiges Orchestrion Sonatenfetzen aus Till Eulenspiegels lustigen Streichen , das von dem holzgeschnitzten Richard Strauss dirigiert wurde.  
    An der Kinderreitbahn angekommen, traten sie, um zu bezahlen, zum alten Pasewald, der sie erkannte: „Da sieh doch mal eener kiek, die Widulle-Famillje, wenn ick mir nich irre! Nicht wahr, Tschienie?“
    „Sehr wahr, Opa Pasewald“, entgegnete Janine lächelnd und verfiel ebenfalls ins Berlinerische, „hast vollkommen recht. Aber et is koom zu glooben, det de mich so, wie ick jetzte ausseh, überhaupt noch erkennst! Et is eene kleene Ewichkeet her, seit wa uns det letztema getroffen ham, wa?“
Sie kannten sich schon an die vierzig Jahre. Janine stellte ihm ihre Kinder vor, während Michaela die kleine Eva, die zu quengeln begonnen hatte, auf einen schwarzbraunen Schecken mit rosa Blesse hob, die Musik wieder einsetzte, die Pferdchen lostrabten und Klein-Evchen juchzend winkte. Der Alte erkundigte sich nach Janines Mann. Deren Miene hellte sich noch eine Spur auf, ein stolzer Schimmer legte sich auf ihre grünen Augen.
    „Ich erwarte ihn heute Abend aus Leipzig zurück, Opa Pasewald“, sagte sie freudig.
    Der Greis nickte lebhaft mit dem Kopf. „Tja, Tschienie, mein Ältester, der Karlo, macht auch seit Monaten mit.“ Das Lächeln in seinem Gesicht wurde schwächer. „Meene beeden Mädels sind verheiratet, und ooch ihre Männer...“ Er schüttelte jetzt tief seufzend sein Haupt. „Ewig schade, det unsereins nich mehr aktiv dabei sein kann.“ Er hüstelte, und eine Träne lief seine linke Wange herunter. „Und meine Ollsch, die Berta, hat mir vor dem Frühjahr schon verlassen; an Altersschwäche isse halt jestorben mit ihren bald neunzig Jahren. Keen Mensch will hier mehr leben, und manch eener, der nicht übersiedeln mag oder kann, zieht es vor, das Zeitliche zu segnen. Aba ick werde die Hoffnung niemals bejraben, Tschienie! Ick bewohne jetzt ne Mansarde bei der Schwiejatochter. Der Bub dort ist meen Enkel“, er deutete auf den halbwüchsigen Jungen, der die Ponys dirigierte, „er hilft mir in seinen Ferien, sooft ihn seene Mutter lässt.“ Er grinste mit einem Mal schelmisch und winkte die Besucherin mit dem Zeigefinger näher zu sich heran, während auch er sich gleichzeitig ihrem Gesicht näherte und zu flüstern begann: „Det Kerlchen is nich ohne: den Wessis

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