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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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Stunde auf dem Schulhof der Köpenicker Oberschule zum Appell anzutreten hatte. Natürlich in vollem Gerödel der Freien Deutschen Jugend: Blauhemd, gelbes Abzeichen, rotes Halstuch.
    „Verdammte Hacke“, fluchte er beim Knoten des Halstuches, der zu eng geriet. Er spitzte die Ohren, ob seine Mutter ihn nicht hörte, die von Sünde jammern würde mit einer Vorahnung von Jüngstem Gericht in ihren wasserblauen Augen. Sein Blick streifte das FDJ-Abzeichen, von dem er bis heute nicht wusste, ob es eine auf- oder eine untergehende Sonne darstellen mochte, und sinnierte darüber, bis er sich der drängenden Zeit bewusst wurde, da es schon zum zweiten Mal klingelte. Unten würden Ingrid und Willi Widulle schon sehr ungeduldig warten.
    An der Ecke Dorfstraße/Fürstenwalder Allee trennten sie sich. Das jüngere Mädchen musste nach links in die Friedrichshagener Oberschule, die Jungen geradeaus zur S-Bahn-Station, wobei sie wie immer den kleinen Umweg am Bungalow Bauernheide vorbei nahmen. Aber Johannes war schon unterwegs. So hasteten sie weiter und erreichten gerade noch die Stadtbahn.  
    Als sie endlich atemlos auf dem Schulhof ankamen, standen die Klassenkameraden schon in Reih und Glied. Nach dem schwarzen Haarschopf von Johannes Ausschau haltend hatte Gustav kaum Zeit, sich in die Linie einzureihen, als schon die schrille Tenorstimme von Oberlehrer Eichhorst erschallte, mit der dieser den Appell zu diesem staatsfeierlichen Festakt anlässlich des sechzigsten Geburtstages der Landesmutter abzunehmen sich anschickte.
    Eichhorst war – jetzt in seiner Eigenschaft als stellvertretender Direktor und Verantwortlicher für Wehrerziehung der Jugend – neben der Fahne vor die Schüler getreten, die sich schnell auszurichten bemüht waren. Auch der Lehrer trug Uniform, nämlich die der Nationalen Volksarmee, in der seine X-Beine besonders gut zur Geltung kamen. Seine etwas groteske Figur vermochte er durch forciert stramme Haltung und schneidiges Gebaren kaum in besseres Licht zu setzen.
    Der kleinwüchsige Sachsen-Anhalter war Oberleutnant der Reserve und hatte bekanntermaßen seinen Fahnendienst in einem Ministerium abgeleistet. Böse Zungen wussten ganz genau, dass es sich um eine – wenn auch nicht besonders steile – Karriere bei der Behörde für Staatssicherheit gehandelt hatte, zu der die Verbindungen noch nicht ganz abgerissen waren.
    Seit Jahren gefiel sich Eichhorst als Drillmeister der Schülerschaft, an der er sich weidlich auszutoben pflegte, indem er sie vormilitärisch über den Schulhof und das umliegende Gelände scheuchte. „Stramme Haltung“, „voller Einsatz“, „Zucht und Ordnung“ waren einige seiner Lieblingsvokabeln, welche Phrasen er den abgehetzten Schülern an den Kopf zu werfen pflegte. An diesem festlichen Tag jedoch musste sich der Oberlehrer Eichhorst mit der hervorstechendsten Eigenschaft eines Uniformträgers, dem scharfen Fanfarenstoß eines lauten Organs, bescheiden, mit dem er die gebrüllten Kommandos „Ach ... tung! Die ... Au ... gen ... rechts!“ von sich gab, als der Direktor mit dem Lehrerkollegium im Gefolge über den Hof kam, um die Front der uniformierten Kinder abzuschreiten.
    Der völlig unmilitärische biedere, angejahrte Direktor Clausnitz winkte sofort jovial ab und murmelte: „Ist ja gut. So stehen Sie doch bequem!“, was ihm einen wütenden Seitenblick seines Stellvertreters einbrachte, den er jedoch vollkommen ignorierte. Längst war er es müde geworden, sich mit diesem stalinistischen Schreihals, der gleichwohl den letzten Weltkrieg lediglich aus den unablässig bearbeiteten Schulbüchern kannte, auch nur abzugeben. Dafür ließ sein Untergebener unermüdlich seine Verbindungen spielen, um Clausnitz vom Direktorensessel zu stoßen und selber darin Platz zu nehmen.
    Doch der alte Nationaldemokrat hatte nichts zu befürchten, wollte er doch zum Jahresende ohnehin in Rente gehen, die dem auf die Siebzig Zugehenden schon lange als das ersehnte paradiesische „Orplid“ erschien, das Land des Ehm Welk, das ferne leuchtet , und welches der Heimatautor aus Kummorow beschrieb, den er noch persönlich gekannt und verehrt hatte.  
    Hinter sich hörte er das Befehlsgebrüll von Eichhorst, das ihn sichtlich nervös machte, und anschließend das ohrenbetäubende Klappern einiger hundert Schuhsohlenpaare auf den steinigen Stiegen zur Aula im obersten Stock. Wegen unaufschiebbarer Reparaturarbeiten am Dachgestühl, die ein kürzlich hereingebrochener sommerlicher Orkan

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