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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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fahlgelbe Haarpracht, die dem Organisten bis aufs Jackett fiel. Verlottert, unwürdig, unmännlich und lächerlich fand er den ganzen Kerl. Männerhaare gehörten auf Streichholzlänge geschnitten, alles andere war weibisch und eines echten Angehörigen des starken Geschlechts unwürdig. Das war jedenfalls die eingefleischte Meinung von Oberlehrer Eichhorst.
    Mit zerknirschter Miene sich seiner Ungeschicklichkeit schämend, verschwand Herr Heinze hinter dem Flügel, als sich Direktor Clausnitz dem Ende seiner Rede näherte und somit sich anschickte, zur schwierigsten Passage, der politischen Apotheose, überzugehen. Da war er tatsächlich in keiner beneidenswerten Lage: Wovon sollte er reden? Errungenschaften anzusprechen bedeutete angesichts der mehr als prekären Situation an allen Fronten blanken Hohn. Die Wirtschaft befand sich in dem desolatesten aller Zustände, und die Menschen mieden die gesicherten Grenzanlagen gen Westen, um über die sozialistischen Urlaubsländer ans Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Für wen waren Glückwünsche angebracht, wenn man bedachte, dass das Volk das prominente Geburtstagskind samt regierendem Gatten dorthin wünschte, wo der Pfeffer wächst? Direktor Clausnitz nahm einen tiefen Schluck Wasser aus dem Glas auf dem Pult.
    „Mal sehen, wie er sich aus der Zwickmühle windet“, raunte Gustav seinen Freunden zu. Und wie es sich die jungen Menschen gedacht hatten, versuchte sich ihr Direx mit einer Phrase aus der Affäre zu retten, indem er sich ins mächtige Pathos der großen Politik rettete und vom Frieden sprach, den die ganze Welt ersehne, und der Umwelt, die es zu erhalten gelte für alle Menschen, die billig dächten und recht.
„Das kann auf sich beziehen, wer will“, flüsterte Johannes.
„Aber hierzulande von Umwelt zu quatschen“, zischelte Gustav, „das war wohl nichts.“
    „Doch die verordnete Freiwilligkeit hat er doch reiz- und taktvoll umschrieben, wa?“
    Clausnitz hatte bereits die Mappe mit dem Konzept seiner Rede zugeschlagen, setzte bedächtig die Halbgläser von seiner Nase, um sie umständlich ins Futteral zu stecken, und nahm, hinter seinem Pult stehen bleibend, eine abwartende Haltung ein. Die Lehrerschaft erhob sich von ihren Plätzen, weil alle Lippen mit mehr oder weniger Überzeugung, aber geschwellter Brust, die einen stimmhaft, die anderen lautlos singend, begannen, unter Leitung Otto Heinzes zu bekennen, dass die Völker die Signale zum letzten Gefecht hörten, damit „die Internationale erkämpft das Menschenrecht“, welch frommen Wunsch zu erfüllen sich „die stärkste der Partei´n“ offensichtlich nicht mehr in der Lage sah – so schlecht stand es in Stadt und Land mit ihren Arbeitern und Bauern.
    Indes, da in der Natur kein Tief ohne Hoch existieren kann, besaß sogar diese Feierlichkeit eben doch auch etwas Positives: Zu Ehren der hochwohlsituierten, überprivilegierten Jubilarin erhielten die Schüler sogleich die seltene Gelegenheit, pro Kopf und Familienmitglied eine Banane gegen eine Solidaritätsspende zu erstehen, was sie bei dem Pedell denn auch unter angemessenem Lärm – und jetzt in der Tat freiwillig – eiligst besorgten. Nur die drei Freunde verzichteten – „zugunsten armer Negerkinder“, wie Gustav sich zu Johannes´ deutlich gezeigtem Unbehagen auszudrücken beliebte – und traten gemeinsam den Heimweg an.
    Auf der Straße trafen sie Otto Heinze mit einem Notenheft unter dem Arm auf dem Weg zum Privatunterricht ins Haus von Fleischermeister Kuttelkute, der in der Bitterfelder Straße wohnte und handwerkelte, um dessen völlig unmusikalischer Tochter auf Wunsch des Herrn Papa Klavierspielen beizubringen. Herr Heinze hielt es für ein aussichtsloses Unterfangen, dieses „Schaufeltier“ im pfleglichen Umgang mit den weißen und schwarzen Tasten zu unterweisen; eher ließe sich ein Nilpferd zur Koloratursopranistin ausbilden. Seine Schwester Gerda hingegen hatte ihn bekniet, um Himmels willen auch einmal an sein leibliches Wohl zu denken. Wie er denn schon ausschaue: wie der heilige Lazarus leibhaftig. Sich solchen Argumenten zu verschließen, war Otto Heinze nicht der Mann, zumal der Metzgereibesitzer ihm unter Augenzwinkern versprochen hatte: „Jeld spielt bei uns keene Rolle, und´n bisschen wat Massives für zwischen de Zähne wird bestimmt ooch noch dabee rausschaun.“
    Ein wenig Geplauder mit den drei Jungens bedeutete einen kleinen, aber willkommenen Aufschub. So kondolierte er Gustav noch persönlich

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