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Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)

Titel: Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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„Und wir bekommen noch nicht mal die Hände hoch!“ raunte Gustav weiter.
    Seine Worte schienen eine Welle der Unruhe auszulösen, die unter Zischeln und Geflüster durch die Aula lief mit der Folge, dass Oberlehrer Eichhorst – sein Taschentuch noch auf seinem Kahlkopf – sich ruckartig umkehrte, indem er sein Gesäß anlupfte, als gedenke er aufzuspringen, und wie ein Dompteur in vergitterter Manege mit gebleckten Zähnen und wütenden Blicks auf die unstete Herde Missetäter stierte. „Schscht!“ zischte er vernehmlich, worauf aber nur die in seiner unmittelbaren Nähe Stehenden reagierten. Erst als der Direktor sich erhob, um hinter das Pult zu treten, kehrte Stille ein im Saal, wobei mancher sich wohl wünschte, der Direx möge es kurz machen.
    Obwohl Clausnitz nicht als ein Freund langer Ansprachen galt - er hatte sich vor Jahren mit der Antrittsrede eingeführt, über alles sprechen zu wollen, nur nicht über fünfzehn Minuten -, konnte er es sich heute nicht leisten, die Sache allzu kurz abzumachen. So gab er sich redlich Mühe, zu sagen, was gesagt werden musste, und tat es mit der gebotenen Feierlichkeit und doch schlicht genug, dass die bei einem solchen Anlass unvermeidlichen Phrasen nicht gar zu penetrant auf das Auditorium wirkten.
    Die Einleitung war ja vorgegeben: „Wir haben uns hier und heute gerne zusammengefunden...“ Dem folgte die Referenz an die Ministerin, die „den Erziehungsauftrag der sozialistischen Schule darin sah, junge Menschen zu befähigen, große und komplizierte Aufgaben zu bewältigen, die ihnen der kommunistische Aufbau stellen würde“, und „die dabei ihrem Gatten in schwierigen Zeiten mit Hilfe der Partei die schwere Last der Staatsgeschäfte getreulich und aufopferungsvoll tragen helfe“ und so weiter, und so weiter... Wie ihm das alles zum Halse heraushing, die abgegriffenen Schlagworte und dieser angestaubte Personenkult...
    Gleichwohl richteten sich dabei aller Augen auf das geschmückte Bildnis der Jubilarin, das eine leidlich hübsche Dame in den Dreißigern darstellte, obgleich sie doppelt so viele Jahre zählte. Gustav fand ihr Gesicht sogar besonders ansprechend; es erinnerte ihn an die Gesichter zweier Schauspielerinnen, deren eine ihr Talent jenseits der Mauer zu Markte trug und deren andere die Diva von der DEFA war, die er anlässlich der Beerdigung von Vater gesehen hatte. Er glaubte, Ähnlichkeiten zwischen den drei gutaussehenden Damen feststellen zu können. Aber das wollte bei Gustav nicht viel besagen, ließ er sich doch nur allzu bereit von Äußerlichkeiten beeindrucken, wie von dem gutsitzenden Kostüm und der jugendlichen Blondfrisur, die das lächelnde schmale und scharf geschnittene Gesicht des dezent geschminkten Geburtstagskindes umrahmte. Die Frau wirkte im Ganzen unbedingt erhaben. Ihre tief liegenden dunklen Augen fand er sehr ausdrucksvoll, und ihre dünnen Lippen schienen ihm Energie zu verraten.
    „Was starrst du die Scharteke so an, Täve!“ raunte Johannes mit zornigem Unterton in der Stimme.
    „Huschke, du bist neben Willi mein bester Freund“, entgegnete Gustav, „aber davon hast du keine Ahnung.“ Dabei bestand ja durchaus kein Anlass, sich endlos in den Anblick der lächelnd aus dem Foto herausschauenden Dame zu verlieren.  
    Es war Otto Heinze, der vorübergehend die Aufmerksamkeit der Versammlung auf sich zog. Seine weitere außerberufliche Tätigkeit an dieser Schule als Interimsnachfolger des gen Westen abgängigen Musiklehrers Schlageter wurde dem Fünfundsechzigjährigen bisweilen doch zu viel. Besonders an einem Tag wie diesem, da die schwer verträgliche Hitze ihm arg zusetzte, ihn nervös und kribbelig werden ließ, zumal sein linkes Knie ihm besonders zu schaffen machte, das möglichst wenig bewegt werden wollte und heute einen baldigen Wetterumschwung anzukündigen schien.
    Er erhob sich von dem harten Stuhl, um leise das Podest zu erklimmen und den gepolsterten Hocker am Flügel zu erreichen, wo er nach der Festrede die Internationalhymne intonieren musste. Nur knarrten die altehrwürdigen Bretter erbärmlich, als er hinauftrat, was zur Folge hatte, dass die Blicke aller Anwesenden auf ihn geheftet waren. Clausnitz lugte erstaunt über seine importierten Halbgläser, während Eichhorst mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf schüttelte und den Störenfried ostentativ missbilligend anstarrte; konnte er doch diesen Heinze ohnehin nicht ausstehen, der ihm zu schlapp war; vor allem hasste er dessen lange

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