Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
erzwungen hatte – durch die Saaldecke nässte es arg herunter –‚ waren die Bankzeilen entfernt worden. Lediglich für die Lehrerschaft standen vor dem Podium ein paar Stühle aufgereiht, so dass die Kinder gezwungen waren, der Feier stehend beizuwohnen.
Zwei alte Maurermeister, die man in Zeiten verschärften Arbeitskräftemangels nur unter erheblichen Schwierigkeiten hatte auftreiben können, waren durch die ministerielle Geburtstagsfeier in ihren ohnedies bloß schleppend fortschreitenden Ausbesserungsarbeiten unterbrochen worden; fluchend hatten sie ihre diversen Utensilien einfach an die linke fensterlose Seitenwand sowie an die Rückwand neben die große Flügeltür gestellt und Leitern, Planken, Farbeimer und Tröge mit zerschlissenen Planen zugedeckt. Dieser Platz fehlte also der Feiergemeinde, so dass sich die jungen Leute, dicht gedrängt wie eine Hammelherde, bis an die Stuhlreihe der Lehrerschaft heranschieben mussten.
Gustav war mit Willi bis zur zweiten Reihe nach vorn vorgedrungen, wo ihr gemeinsamer Freund Johannes stand und sie sich mit vereinten Kräften bemühten, im rivalisierenden Gedränge ihren Platz zu behaupten. Gustav japste hechelnd nach Luft; er pflegte sommers wie winters bei geöffnetem Fenster zu schlafen und glaubte hier ersticken zu müssen.
„Der verfluchte Mittag!“ flüsterte er seinen Freunden zu und meinte den alten Hausmeister. „Zu faul wieder mal, um zu lüften!“ Die vorherrschende feucht-schwüle Treibhausluft im Saal gab ihm recht. Durch die hohen, dicht verschlossenen Fenster konnte nicht ein Hauch Frischluft dringen. Die Ausdünstung von feuchter Farbe, Leim und Kalk verbreitete einen beißenden, muffigen Geruch, der sich mit dem schweißigen Mief der in ihren Uniformen schwitzenden Menschen vermischte und kaum vom Duft der vielen roten Nelken überdeckt wurde.
Wie immer bei solcherart Anlässen waren auch Kübel mit Lorbeersträuchern im Halbrund aufgestellt, an dessen linker Seite neben dem mit rotem Tuch bespannten Rednerpult auf einem altarähnlichen Eichentisch das Bild der Ministerin Margot lehnte, das umkränzt war von Blumen und Ährenkränzen sowie den beiden anderen unvermeidlichen Symbolen Hammer und Zirkel. Das Foto war für die Dauer der Festlichkeiten von der Mittelwand abgenommen worden, wo nun das Porträt ihres vorsitzenden Gatten vereinsamt hing, der bekümmert auf die Rückkehr seiner resoluten Gemahlin zu warten schien.
Gustav stieß seine Kameraden an und konstatierte: „Erich schaut aus, als hätte er Schiss, nicht wahr?“ Sie nickten einträchtig ab, und als wäre es das Zeichen für ihren Einsatz, begannen vier Schüler der Oberstufe den ersten Satz des Kaiserquartetts von Josef Haydn zu spielen. Beim Klang der altehrwürdigen, doch seit langem im Lande ungewohnten Weise Papa Haydns von der „Freude, schöner Götterfunken“ hoben die Schüler die Köpfe und wandten sich um nach der Flügeltür, wo die Lehrerschaft gerade in dem Augenblick heranmarschierte, als die Schülermusikanten die ehemalige Ersatzhymne in die Musik des Arbeiterliedkomponisten Hanns Eisler übergehen ließen. Und sofort begannen die Pauker nicht schön, aber laut zu singen: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt...“
Der Text, den die Schüler sangen, unterschied sich im Folgendem von dem der Lehrer: „Ob das Volk nun Kohl wird kriegen, oder hält der Broiler stand?“
Nur Gustav kümmerte etwas anderes. Seine Augen wurden magisch von dem hohen Fenster angezogen; die großartigen Variationen Hanns Eislers verleiteten zum Träumen. Den Text der Becher-Hymne nicht achtend, sah er sich vor seinem inneren Auge als Oskar-Preisträger lorbeerumkränzt auf dem obersten Treppchen einer riesigen Theaterarena im Alten Rom stehen und sich verbeugen, während das Volk nebst Nero ihm jubelnd huldigte.
Als die Schüler die vertraute Weise des Genossen Eisler, dem Schöpfer eines neuen Massenliedstils, ohne größere musikalische Zwischenfälle beendet hatten, atmeten alle Anwesenden erleichtert auf, was mehr der unerträglichen Treibhaustemperatur zuzuschreiben war denn der künstlerischen Darbietung.
„Haben die es gut!“ kommentierte Gustav flüsternd den raschen Abgang der musizierenden Schüler, den diese mit schuldbewussten Mienen und samt ihren Instrumenten vollzogen, sowie das Tun der Lehrerschaft, die wie auf Kommando fast gleichzeitig ihre Taschentücher hervorzogen, um sich Stirn, Hals und – falls vorhanden – Glatze abzuwischen.
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