Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
führte. Da war auch noch das greise Blaublut Uffo La Mettrie, ein Onkel Friederikes, den sie nur den „scheelen Junker“ hießen, da er die widerwärtige Angewohnheit besaß, fast fortwährend seinen Glasaugapfel aus dem rechten Auge in die linke Hand fallen zu lassen, sich spielerisch eine Weile damit zu beschäftigen, es endlich wieder unter komischen Verrenkungen und verzerrten Gesichts wieder einzusetzen, um sich aufs Neue mit seiner Guckprothese zu beschäftigen. Solange Johannes denken konnte, hatte der scheele Onkel Uffo einen total vertrottelten Eindruck gemacht.
Überall wurde Patricia als Wunderkind herumgereicht und musste sich im verrauchten Musiksalon an den Flügel setzen. Er freilich saß neben ihr, um die Noten umzublättern, derer sie gar nicht bedurfte, weil sie auswendig spielte. Diese List war der Zwillingsschwester eingefallen, damit sie auch unter den Gästen beieinander sein konnten. Wenn man sie endlich schlafen gehen hieß, beeilten sich die Geschwister, ihre nebeneinanderliegenden Zimmer im hinteren Trakt des Bungalows aufzusuchen, um Abend für Abend die knapp bemessene Zeit im Dämmerlicht einer Kerze zu verplaudern, derweil aus dem Salon gedämpftes Lärmen der Gesellschaft zu ihnen herüberdrang.
Johannes schaukelte mit geschlossenen Augen und lauschte dem Plätschern des Brunnens auf der Terrasse. So fließt auch mein Leben dahin, dachte er, fruchtlos, untätig, ohne jeden Sinn. Was ist das Ziel? Ich lerne leicht, prima; ich schaffe spielend mein Pensum, super. Aber wo ich am Ende landen werde, weiß der Himmel. Was will ich überhaupt? Patsy hat ein Ziel, ja eine Berufung. Bin ich etwa eifersüchtig auf meine Zwillingsschwester? Dafür lese ich alles, was mir in die Hände fällt: Alfred Döblin, Uwe Johnson, Henry Miller, Jean-Paul Sartre, Stefan Heym und Heinrich Böll genauso wie Boris Pasternaks Oden und Sascha Solchinyzins Ersten Kreis der Hölle in russischer Sprache. Und das nur, um mich nicht vor Patsy schämen zu müssen.
Gott, wie sehr ich es herbeiwünsche und gleichzeitig fürchte, wieder mit ihr zusammen zu sein! Wie wird das sein? Werde ich sie enttäuschen? Nicht auszudenken!
Johannes könnte nichts Schlimmeres widerfahren, und im Zustand äußerster Erregung schlug er die Hände vors Gesicht.
Erst allmählich begannen sich seine Sinne wieder zu beruhigen, dafür sprangen seine Gedanken wie aufgescheuchte Gamsböcke hin und her. Er legte mechanisch eine LP mit Manfred Krug samt Bigband auf. Ihn fröstelte nun doch ein wenig arg, er zog das Blauhemd über.
Wen habe ich denn außer dir? Ihn hasse ich! Wie ich es drehe und wende, am Ende bleibst nur du! Zunächst wirst du ordentlich erschrecken, wenn ich dir zum ersten Mal mein Herz ausschütte, dir gestehe, dass ich nur dich habe, dir vor Augen führe, wie unsäglich ich ihn verabscheue, verachte, hasse! Wirst du mich verurteilen, weil ich so von unserem Vater rede? Vielleicht. – Habe ich gesagt: Vater? Du musst zugeben, Patsy, er hat niemals ein einziges gütiges Wort für uns übrig gehabt, geschweige denn Liebe! Er ist ein Funktionär, und wir sollen funktionieren! Väter! Wenn ich das schon höre! Unsere Väter sind ein verbrauchtes Geschlecht. Was gehen sie uns an? Sie haben kein Recht an uns! Denn wer ist an allem Elend schuld? Nur sie! Die Väter! Sie haben Krieg gemacht und ein System der Unfreiheit aufgebaut. Etwas anderes konnten sie nicht. Und sie haben zum wiederholten Mal die bequemere Heimat gewählt statt der wahren Heimat. Dabei ist unser Vater nicht einmal ein anständiger Mensch, diese Sorte macht sich sowieso immer rarer hier, wie es wohl überall auf der Welt mehr schlechte als gute Individuen gibt, mehr faule als fleißige und mehr, die ihr Talent verschleudern, als es einzusetzen.
Wie oft muss ich daran denken, dass alles so ganz anders hätte kommen können, wenn Mutter noch auf der Welt wäre! Was muss sie für eine wundervolle Frau gewesen sein! Die Worte von Sonja klingen mir noch in den Ohren, die erzählen, wie sie gestorben ist. So glücklich sei sie gewesen, als sie nach heikler Schwangerschaft und komplizierter Geburt uns beide zum ersten Mal in ihren Armen wiegen durfte. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie gelacht hat und geweint in einem und ihr Zwillingspärchen gar nicht mehr hergeben wollte. Als ob sie spürte, was auf sie zukommen sollte. Und wenige Tage danach musste sie ja dann auch der Schüttelfrost überfallen haben, und kein Semmelweis war aufzutreiben, sie zu
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