Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
retten... Und neuerlich stieß er einen tiefen Seufzer aus, starrte vor sich hin, darüber brütend, dass seine Mutter eine Aristokratin sorbischer Abstammung gewesen war und quasi als Testament gegen den Willen des Vaters ihrem Zwillingspärchen die Vornamen gegeben hatte, und seine Miene verdüsterte sich zusehends. Und er? Lästig waren wir ihm allezeit. Ich mehr, du weniger. Als aber in der Zeit der offenen Diskussionen wir einander in den Argumentationen ergänzten, du sogar ihm am unbequemsten zusetztest, weil du immer schon die Intelligentere von uns beiden warst, nahm er erleichtert Livtoschenkos Idee mit Odessa auf, dankbar, auf billige Weise eine leidige Zeugin seiner platonischen, vor allem aber seiner physischen Ausschweifungen abschieben zu können. Mit mir rechnete er da gleichwohl weniger, wogegen er sich vor dir in einem erbärmlichen Bodensatz von Anstandsgefühl geschämt haben musste.
Johannes atmete heftig, so sehr erregt war er, und langte mit zittrigen Fingern nach der Tablettenpackung, um sich fahrig zwei Kapseln in den Mund zu schieben und die Neige des abgestandenen Getränks hinterherzugießen. Aufstöhnend ließ er sich zurückfallen und lag wieder vollkommen still. Aber nur für einen kurzen Moment, denn ein Geistesblitz ließ ihn unvermittelt wieder auffahren und in die herzseitige Brusttasche seines Blauhemds greifen. Er zog ein kleines, in rotes Saffianleder gebundenes Notizbüchlein hervor, seine Minibibel, die er stets bei sich trug, um jederzeit seine Einfälle und Inspirationen für Gedichte und Impressionen festhalten zu können.
Ihm war die Eintragung eingefallen, die er vor etwas mehr als einem Jahr vorgenommen hatte und die seine Lippen jetzt stimmlos formten:
Liebste Patsy!
Da ich nicht abschätzen kann, ob ich später, wenn ich Dir Aug´ in Aug gegenüberstehe, den Mut aufbringen werde, so ganz ohne Emotion, wie es die Angelegenheit gebietet, alles auszusprechen, was ich auf dem Herzen habe, will ich schriftlich fixieren, was ich mit dem sauberen Alten erleben musste!
Sicher ist er privilegiert, nichts brauchen wir zu entbehren, auch für das exotische leibliche Wohl ist vorgesorgt. Doch schäme ich mich, Weißbrot mit Parmaschinken und Pumpernickel mit Raclette, Orangen oder Bananen mit in die Schule zu nehmen, während die anderen mit stets der gleich eintönigen Atzung vorliebnehmen müssen, wie die immer fette Schweinewurst und ewig die wässrigen Schlangengurken. Und ich fühle mich dabei so entsetzlich vereinsamt hinter diesen Mauern hier und abgrundtief seelenlos...
Er besitzt ja keine Seele! Wenn Du ahntest, wie es einem Menschen zumute ist, der ihm lästig ist wie ich! Seine eiskalten graublauen Augen schauen mich Dolchstichen gleich an, wohingegen sie nicht wiederzuerkennen sind, wenn sie pflaumenweich allen möglichen Weiberröcken nachblicken…
Aber zunächst möchte ich Dir von dem Abend nach dem jährlichen Pressefest berichten. Das war einen Monat, bevor er an die Prager Botschaft versetzt wurde, weil man dahintergekommen war, dass er einer Parteigröße aus dem Wirtschaftsministerium, dem alten Genossen Maunz, Hörner aufgesetzt hatte. Der Skandal wurde tunlichst vertuscht, indem man ihn kurzerhand als Handelsattaché an die Moldau abgeschoben hat.
Es war ein schöner Junisonntagabend nach den Pflichtübungen im Volkspark Friedrichshain. Schon im ersten Morgengrauen wurde von den Leuten der Imes GmbH in verschlossenen Behältern alles geliefert, was zu einer durchlauchtigen Schlemmerei gehört: Wildbret, Lachs und Hummer sowie alle Sorten exotischer Früchte und süffiger Weine; selbst Champagner durfte nicht fehlen. Die Lieferanten kamen verstohlen in der Früh, um nicht Leuten begegnen zu müssen, denen womöglich auf dem Weg zur Arbeit das Wasser im Munde zusammenliefe und auf dem Umweg über den Magen unliebsame Gedanken in die Köpfe flögen.
Unsere gute alte Sonja musste tagsüber der Hilfsköchin vom Konsum KG Berlin-Süd, der Frau Zschielinski oder wie die heißt, und ihrer Küchenhilfe, der zarten Vietnamesin Vo thi Lien, zur Hand gehen; und abends hatte sie alle Hände voll zu tun, und sollte bis in die Nacht die Gäste bedienen.
Mir selbst war von Einbruch der Dunkelheit an strengster Stubenarrest auferlegt. Die Korridortüren wurden verschlossen, so dass ich zur Eulenfluchtstunde Gefangener war in den eigenen vier Wänden. Ein Häftling freilich, der vom Zimmerfenster seines eigenen Elternhauses aus dem Spektakel beiwohnen sollte!
Ich
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