Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
fuhr die Genossin sie grob an. „Das soll sie doch nur im Notfall bekommen, wenn das Kokain nichts helfen will.“
„Wo kriegt ihr denn den Stoff auf einmal her?“
Die Genossin griente breit. „Der eiserne Vorhang ist nicht vollkommen undurchlässig. Unterirdisch hat es hier und da geheime Türchen und Röhren, durch die man schlüpfen kann, um Briefchen unterschiedlichsten Inhalts einzuführen.“
„Um Gottes willen! Wollt ihr denn alle nach Bautzen? Das eine ist ja gefährlicher als das andere! Da halt´ ich mich auf alle Fälle raus, das merkt euch!“ Carmen Denikin verließ eilenden Fußes das Zimmer und warf die Tür hinter sich ins Schloss.
„Maria und Josef!“ meinte Poniatowski lakonisch und zuckte verächtlich die Achseln. „Nun gut, machen wir beide ohnedies allein.“ Worauf die Gelegenheiten, Geneviève Rauschgift und gegebenenfalls Libidotropfen wohldosiert zu verabreichen, von dem ungleichen, aber gleichgesinnten Paar sorgfältig geplant wurden. „Wissen Sie, verehrte Genossin, sie müsste tagtäglich in Essen oder Getränk ein klein wenig Kokain eingemischt bekommen.“
„Keine Sache“, sagte Friederike nach kurzer Überlegung.
„Nichts ist leichter, als die alte Haushälterin Paula dazu zu bringen. Sie kann Geneviève nicht ausstehen und ist mir vollkommen gefügig. Sie wird das schon machen, wenn Sie mir nur die genaue Dosis angeben, damit wir sie nicht etwa...“
„Ma-Jo, für wen Sie halten mich denn!“ fiel ihr der Warschauer ins Wort; er fühlte sich durch die Zweifel der Genossin in seiner Berufsehre gekränkt. „Außerdem ich habe eigenes Interesse schon, nicht mit hiesiger Kriminalpolizei in Konflikt zu geraten.“ Und in wieder ruhigerem Tonfall schloss er: „Überlassen Sie getrost mir: Kleine Frau wird sich bald im siebten Himmel fühlen bei unserer Therapie.“ Dabei knipste er das linke Auge zu, Frau Wagner-Gewecke vertraulich anblickend. Seinen Mund umspielte wieder dieses eingefrorene Lächeln, worauf die Genossin ihre Lippen ganz schmal aufeinanderpresste und nur knapp nickte.
Was mag es nur sein, das mich einfach nicht zur Ruhe kommen lässt? Bin ich allein, quält mich die Einsamkeit, und ich sehne mich nach menschlicher Wärme, einer vertrauten Stimme, einem guten Gespräch... Doch wie rasch werde ich dann des seichten Geredes überdrüssig, der hohlen Phrasen und abgegriffenen Worte: sozialistisches Vaterland, revolutionäre Traditionen, gesellschaftliche Verpflichtung, produktive Arbeit, kommunistischer Aufbau und kommunistische Moral, Befreiung vom Joch der Unterdrückung und der Ausbeutung auf der Welt, nur nicht im eigenen Land. Gab es noch Worte, die nicht gesagt, Gedanken, die nie gedacht wurden?
Johannes lag neben dem Springbrunnen des väterlichen Bungalows und starrte in die Wipfel der drei Kiefern, deren zerfranzte Silhouetten sich gegen den wolkenlosen Himmel abzeichneten. Eintönig erschallte das Rauschen der aufschießenden Fontänen und ihr Aufschlagen auf die Wasseroberfläche des Bassins. Er kannte sehr gut den einschläfernden Effekt des Plätscherns auf flatternde Nerven und verworrene Gedanken. Heute aber verfehlte es seine Wirkung nicht nur, sondern wirbelte im Gegenteil seine Gedanken empor, so dass sie durcheinander schwirrten wie eine Schar aufgescheuchter Fledermäuse, die nächtlings der blendende Lichtstrahl einer Lampe traf.
Alles schien ihm in Auflösung begriffen, nichts mehr von Bestand, alle Werte – oder was man bis heute dafür hielt – umstritten und fragwürdig geworden; die menschliche Existenz, einst von humanistischen Idealen geleitet, beschränkte sich nur noch auf die Erfüllung animalischer Bedürfnisse, das Leben auf dem Globus selbst war in Frage gestellt, da es in diesem sinnlosen Vernichtungswirbel aus atomarer Bedrohung und Umweltzerstörung kein Ziel mehr gab und keinen sicheren Halt! Alles ist nur noch bloßes Vegetieren, dachte Johannes, dem schon am nächsten Morgen das Ende folgen kann. Und ein Ende mit Schrecken würde er bei Weitem vorziehen einem Schrecken ohne Ende.
Ihm fielen die Worte Claudios aus Hofmannsthals Mini-Drama Der Tor und der Tod ein, die er auswendig beherrschte wie die gesamte Rolle, die er dann und wann laut vor sich hin deklamierte wie jetzt:
„Wie abgerissne Wiesenblumen
Ein dunkles Wasser mit sich reißt
So glitten mir die jungen Tage
Und ich hab´ nie gewusst, dass das schon Leben heißt.“
Johannes hielt in seinem Tagebuch seit geraumer Zeit auch kleine
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