Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
beruhigt und bei längerem Warten im Kreise der Mitbetroffenen bisweilen sogar eine aufgesetzte Gleichgültigkeit zur Schau trägt, um dann aber, wenn er an der Reihe ist und aufgerufen wird und weiß, dass jetzt gleich auf dem Nerv herumgebohrt wird, sofort in noch ärgere Angst als zu Beginn zu verfallen.
Die rumorenden Stimmen im Saal, das ununterbrochene Lärmen, Gekicher und Rufen der Kinder, die von wohlmeinenden, gleichwohl fehlgeleiteten Genossinnen und Genossen mitgebracht worden waren, irritierten nicht nur Gustav, der auf seinen Stoßseufzer: „Das macht mich ganz konfuzius!“ von der schönen Richlind den Trost erhielt: „Da jewöhnste dir dran“, bevor das Mädchen mit rotem Jakobinerkäppchen unter aufbrandendem Applaus auf die Bühne entschwand. Als dann jedoch sein eigener Auftritt näher rückte, fiel er jählings in jenes vormalige Stadium zurück, das beim Zahnarzt dem Bohren vorausgeht. Er schlotterte wieder vor Angst, sein Atem flog, sein Puls hämmerte in den Schläfen derart, dass er zuletzt gar sein Stichwort überhörte. Er horchte noch auf sein Ohrensausen, als ihn jemand von hinten auf die Bühne stieß, was seinen ersten Auftritt etwas elanvoller geraten ließ, als es einem Debütanten anstand, und er sich unversehens mitten im Märchenwald stehen sah. Die stürmische Nummer gefiel nicht nur den Kindern, die ihn aus hundert kleinen Kehlen jubelnd empfingen, was sie bisher bei jedem Auftretenden getan hatten, das aber Gustav ungemein irritierte und ihn zu seinem nicht geringen Schreck zu Bewusstsein brachte, dass ihm die ersten Worte nicht einfallen wollten, ja, der gesamte Rollentext wie weggeblasen schien.
Die Souffleuse, alt wie das laufende Jahrhundert, die zudem Schwierigkeiten mit ihren dritten Zähnen hatte, zischte wohl etwas wie „Reif“ und „Kumpanei“, das Gustav aber nicht recht verstehen konnte. Instinktiv runzelte er, nur um überhaupt etwas zu tun, die Stirn, indem er die buschigen Augenbrauen hob, und riss sich die Flinte von der Schulter, um mit voller Wucht den Kolben auf die Bretter, die die Welt bedeuten, zu stoßen, so dass die ganze Bühne wie unter einem Erdbeben erzitterte, wobei ihm allerdings die Waffe polternd auf den Boden entglitt.
Gleichwohl sollte das seine Rettung sein: Das Publikum hielt es für durchaus angebracht und klatschte stürmisch Beifall. Gustav selbst empfand es als mannhaftes Getön und der Försterrolle nicht unangepasst, auch kratzte den Schwitzenden sein männlicher Vollbart, und plötzlich fiel ihm auch der etwas eigenwillige Text wieder ein.
„Rotkäppchen“, rief er, „lauf geschwind in die Stadt zur Firma Horchguck, Greif und Compagnie, und hol ein halbes Dutzend gefüllte Aktentaschen sowie ein ganzes Schock talkgespickte Tonbänder, um dem schnöden Wolf den nimmersatten Schmerbauch aufzufüllen!“
Johlendes Gelächter erschallte aus dem Auditorium, und die angejahrte Souffleuse, schon halb aus dem Kasten gekrochen, lehnte sich erleichtert prustend zurück. Alles ging jetzt glatt über Bühne und Zunge, wie es Richlind dem Jungen kurz vor ihrem Auftritt mit „toi, toi, toi!“ und Spucken über die linke Schulter prophezeit hatte. „Euer Dank ist mir genug!“ hieß Gustavs letzter Satz. „Bekomm´ ich doch als hohen Preis für des bösen Wolfs verfilzten Pelz ein Übermaß an delikater Libertät!“
Im Großen und Ganzen schienen alle Seiten – Publikum wie Kollegenkreis – mit dem Debüt zufrieden: Von unten erntete er Applaus, hinter dem Vorhang empfing ihn Lob, und die kleine Textpanne zu Beginn seines Auftritts blieb gänzlich unerwähnt. Richlind meinte gar: „Da kann man ehrlich nicht meckern!“ Und nur Carl Magnus Dünnleder war so frei, ihn zu bitten, doch bei künftigen Vorstellungen nicht mehr gar so wuchtig die Flinte auf den Boden zu schmettern, bestehe doch Gefahr, dass die schon ein wenig maroden Bretter zerbrächen, denn für dieses Risiko stünde schließlich der Kulturbund nicht gut.
Der Tag hielt noch eine weitere Überraschung bereit: Johannes drückte sich verlegen in einer Ecke herum; er war seinem Freund heimlich gefolgt. Gustav war euphorisch genug, sich nichts Arges beim plötzlichen Auftauchen des Freundes zu denken, und machte ihn mit dem Ensemble bekannt. Auf dem Heimweg hatte der frischgebackene Bühnenkünstler eine Menge zu erzählen...
Der neue Untermieter war bislang nur ein einziges Mal über Nacht geblieben und hatte sich am nächsten Morgen schon früh wieder mit dem
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