Letzter Gipfel: Ein Altaussee-Krimi (German Edition)
zu sprechen. „Rekapitulieren wir, Gasperlmaier!“, sagte sie. Während Gasperlmaier noch überlegte, was genau dieses Wort wohl bedeuten mochte, überhörte er fast die Überlegungen, die die Frau Doktor von sich gab, während sich ihr Wagen so schwungvoll durch die Kehren schlängelte, dass Gasperlmaier einmal gegen die Tür, das andere Mal aber gegen die Frau Doktor geschleudert zu werden drohte. Das Letztere war ihm definitiv angenehmer.
„Wir haben also zwei Leichen, Fundort nahezu identisch. Todeszeitpunkt – sicherlich ein paar Monate auseinander, vielleicht ein Jahr. Todesursache – einmal wahrscheinlich Fremdeinwirkung, das andere Mal völlig ungeklärt. Identität beider Opfer ungeklärt. Beides Frauen. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen? Reine Spekulation. Ein Verbrechen? Im zweiten Fall mehr als wahrscheinlich. Gasperlmaier, auf uns kommt viel Arbeit zu. Wir sehen uns morgen früh wieder – und ich hoffe, bis dahin haben wir zumindest die Identität des gestern verstorbenen Opfers geklärt. Ich setze meine Hoffnung da auf das Handy. Und vielleicht meldet sie ja jemand als vermisst.“
Mittlerweile hatten sie die Mautstelle passiert und näherten sich der Talstation der Lifte, die auf den Loser und den Sandling hinaufführten, und den zugehörigen größeren Parkflächen.
„Sie glauben gar nicht, Gasperlmaier“, holte die Frau Doktor in ihren Ausführungen ein wenig weiter aus, „wie viele Leute vermisst gemeldet und nie gefunden werden. Und wie viele Leichen, andererseits, gefunden werden, deren Identität nicht oder erst nach sehr langer Zeit geklärt werden kann. Ist es nicht seltsam, dass es Leute gibt, die niemandem abgehen, wenn sie verschwinden?“ Gasperlmaier versuchte, sich eine halbwegs intelligente Antwort zurechtzulegen, als die Frau Doktor auch schon fortfuhr. „Haben Sie Kinder, Gasperlmaier? Ich komm nur drauf, weil ich gerade überlege, dass wenigstens Eltern den Kindern abgehen sollten, wenn sie verschwinden. Oder umgekehrt. Wem würde ich abgehen, wenn ich verschwinden würde? Ja, sicher. Meinem Arbeitgeber. Aber sonst. Ich hab keine Kinder, Gasperlmaier. Aber ich hätte gern welche. Aber wie soll man das anstellen, in diesem Job?“ Langsam begriff Gasperlmaier, dass die Frau Doktor nicht unbedingt Antworten von ihm erwartete, was ihm an sich nicht unangenehm war. Unangenehm war ihm hingegen, dass er das Gefühl hatte, die Frau Doktor sei gerade dabei, ihm ihr Herz auszuschütten, und das war nichts für Gasperlmaier, ganz allgemein, dass Frauen ihm ihr Herz ausschütteten, denn mit dem Inhalt desselben konnte er selten was anfangen. Entgangen war es ihm allerdings nicht, dass Frauen ihm manchmal mehr von sich erzählten, als er von ihnen wissen wollte. Seine Christine hatte ihm einmal erklärt, die Unbeholfenheit, die er zuweilen ausstrahle, wecke in Frauen den Beschützerinstinkt, sie sähen ihn, so die Christine, eher als großen oder auch kleinen Bruder, an dessen Schulter man sich ausweinen könne. Gasperlmaier war froh, dass ihn wenigstens die Christine nicht wie einen kleinen Bruder behandelte, denn in diesem Fall hätte ihm die Ehe, so dachte er bei sich, wohl wenig Freude bereitet.
Inzwischen waren sie vor dem Gasperlmaier’schen Haus angelangt, ohne dass die Frau Doktor nach dem Weg hatte fragen müssen. „Woher wissen Sie … ?“, fragte Gasperlmaier, ohne die Frage zu Ende zu bringen. Eine seiner schlechten Angewohnheiten, wie seine Frau immer wieder betonte. Er solle einmal angefangene Sätze auch fertig sprechen, ermahnte sie ihn gelegentlich. Die Frau Doktor lächelte. „Erinnern Sie sich nicht mehr? Ich hab sie doch hier schon einmal frühmorgens zu einem Einsatz abgeholt!“ Gasperlmaier verabschiedete sich und konnte sich nicht genug darüber wundern, dass sich die Frau Doktor nach einem einzigen Mal, wo noch dazu große Eile geboten gewesen war, den Weg zu seinem Haus gemerkt hatte.
Erst als die Frau Doktor im Rückwärtsgang verschwunden war, bemerkte Gasperlmaier, dass vor seinem Haus ein alter VW-Bus parkte, mit einem Salzburger Kennzeichen. Den hatte er hier noch nie gesehen. Es war kein ganz alter, sondern schon die ein bisschen eckigere Ausführung, mit runden Scheinwerfern und ziemlich verrostet. Auf den blau-weiß lackierten Seitenflächen stand in großen, etwas schlampig hingepinselten Lettern „Beda Venerabilis“, was immer das bedeuten mochte. Gasperlmaier nahm seine Mütze ab, kratzte sich am Kopf und öffnete das
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