Letzter Gipfel: Ein Altaussee-Krimi (German Edition)
schüttelte den Kopf. Er hatte keine Lust, sich vorzustellen, was passierte, wenn einer von zwei einsamen Bergsteigern hier heroben im Nebel einen Fehltritt beging. Die Frau Doktor trat nah an den Abgrund heran. „Was war hier los?“, sinnierte sie, in den Abgrund hinunterstarrend. Gasperlmaier zog sich ein paar Schritte zurück. Die Frau Doktor drehte sich um, wobei sie über einen Stein stolperte und kurz ins Taumeln geriet. Gasperlmaier tat einen Schrei, bewegte sich aber vor Schreck keinen Millimeter von der Stelle. Schon meinte er, die Frau Doktor würde vor seinen Augen zu Tode stürzen, als sie ganz ruhig auf ihn zukam. „Was ist denn, Gasperlmaier? Ist Ihr Nervenkostüm heute schon so angeknackst? Nur die Ruhe. Bald haben wir es geschafft. Wir müssen nur noch hier die Kante absuchen, ob von den beiden irgendetwas zurückgeblieben ist.“ Das war so ungefähr die Vorstellung Gasperlmaiers von Fegefeuer und Hölle, dass er am Rand eines Abgrunds in Nebel und immer bedrohlicher einfallender Dunkelheit etwas suchen sollte, von dem er nicht wusste, was es war. Ein Fiebertraum.
Die Frau Doktor entfernte sich wieder von ihm, ihre Blicke aufmerksam zu Boden geheftet. Gasperlmaier sollte nun, so schlussfolgerte er zumindest, in die andere Richtung gehen, um nach irgendetwas zu suchen, das die beiden einsamen Bergwanderer heute Vormittag hinterlassen hatten. Einerseits kam ihm der Nebel nicht ungelegen: Keine gähnend tiefen Abgründe taten sich vor ihm auf, an deren unterem Ende, Hunderte Höhenmeter tiefer, er sich im Geiste schon liegen sah. Der Nebel verschluckte alles. Allerdings auch den Sicherheitsabstand zum Rand der Klippe, dem sich Gasperlmaier nähern sollte. Fünf Meter schienen ihm ausreichend, und so schlich er, aus Sicherheitsgründen, um seinen Schwerpunkt tiefer zu legen, gebückt am Rand des Gipfelplateaus entlang. Die Verpackung eines Müsliriegels lag plötzlich vor seiner Schuhspitze, einen Schritt weiter ein benutztes Papiertaschentuch. Verärgert steckte Gasperlmaier beides ein, um es beim nächsten Mistkübel loszuwerden. Was die Wanderer heutzutage doch für Ferkel waren. Was man auf den Berg hinauftragen konnte, hatte Gasperlmaiers Mutter immer schon gepredigt, das konnte man doch, wenn man seinen Inhalt verspeist hatte, auch leer wieder hinuntertragen. Das war doch nicht so schwierig. Gasperlmaier erinnerte sich an die jährlichen Reinigungsaktionen, als er als Jungfeuerwehrmann kreuz und quer über die Wanderwege der näheren Umgebung geschickt worden war, um weggeworfenen Müll einzusammeln. Auch damals, gestand er sich ein, waren sie nach zwei, drei Stunden mit prall gefüllten Müllbeuteln zurückgekommen. Vor fünfundzwanzig Jahren waren also die Wanderer auch nicht reinlicher gewesen als heute.
Plötzlich hörte er die Frau Doktor rufen, blickte auf und konnte sich nur schwer orientieren. Wo war jetzt das Gipfelkreuz? Wo der Weg nach unten? In aufkommender Panik irrte Gasperlmaier einmal hierhin, einmal dorthin, nur um nach wenigen Schritten wieder auf eine Abbruchkante zu stoßen. Schweiß trat aus allen seinen Poren, und Gasperlmaier begann zu keuchen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. „Kommen Sie, Gasperlmaier. Kein Grund zur Panik. Wir gehen jetzt hinunter. Hier gibt’s wohl nichts mehr für uns.“ Sanft steuerte sie Gasperlmaier, der nach wenigen Schritten das rettende Gipfelkreuz erblickte und sich wiederum, schwer atmend, auf dem Sockel niederließ. „Ich weiß, wie das ist“, meinte die Frau Doktor. „Glauben Sie nicht, dass ich Angstzustände nicht kenne. Der Unterschied ist nur, Männer versuchen meist, sie zu überspielen. Auf die Idee, sie zuzugeben und dagegen etwas zu unternehmen, kommen sie meistens nicht. Haben Sie schon einmal daran gedacht, eine Therapie gegen Ihre Höhenangst zu machen? Immerhin leben Sie mitten im Gebirge?“
Gasperlmaier ersparte sich, der Frau Doktor seine Meinung darzulegen, nach der der Mensch eben keine Gams war und es dem natürlichen Überlebenswillen seiner Spezies entsprach, sich nicht mutwillig Gefahren für Leib und Leben in Gestalt senkrechter Felswände auszusetzen. Warum sollte er sich etwas wegtherapieren lassen, was ihm unter Umständen das Leben retten konnte? Stattdessen zuckte er nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht recht, Frau Doktor“, gestand er schließlich doch ein, „glauben Sie denn, dass das wirklich hilft?“ Die Frau Doktor nickte. „Sehen Sie, ich habe es bei meiner Spinnen- und
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