Letzter Gruss - Thriller
wenig.
»Sagten Sie nicht, dass sie Alte und Kranke gepflegt hat?«
»Das ist richtig.«
Um seinen Mund erschien ein kleiner verächtlicher Zug.
»Dann gehören Sie also zur Oberschicht«, sagte er. »Das hätte ich nicht erwartet.«
Sie wusste genau, was er dachte. Er glaubte, dass ihre Mutter eine gewesen war, die vor den Augen der Bedürftigen auf irgendwelchen Wohltätigkeitsveranstaltungen mit ihren Juwelen geklimpert hatte.
»Da irren Sie sich«, sagte sie. »Wollen Sie die Geschichte wirklich hören?«
»Ja, ich will sie wirklich hören.«
Sie stellte ihr Glas auf dem Couchtisch ab.
»Dieser Überfall auf den Geldtransport, von dem ich Ihnen gestern erzählt habe, wissen Sie noch?«
Er nickte, trank seinen Wein aus und füllte das Glas wieder.
»Das waren mein Großvater und drei Brüder meiner Mutter«, sagte sie. »Sie erbeuteten fast neun Millionen Kronen, was rund achteinhalb Millionen mehr waren, als sie erwartet hatten. Sie kriegten die totale Panik, wussten nicht, wohin mit all dem Geld. Einen Teil haben sie vergraben, aber den größten Teil haben sie auf das Gehaltskonto meiner Mutter eingezahlt.«
» Wie bitte ?«, sagte Jacob und verschluckte sich.
»Das war sogar richtig schlau, wie sich im Nachhinein herausstellte. Das ganze Geld, das sie vergraben hatten, wurde gefunden, aber auf die Idee, Mamas Konto zu überprüfen, ist keiner gekommen.«
Sie beobachtete seine Reaktion genau, würde er ihr jetzt die kalte Schulter zeigen? Sie als Tochter einer kriminellen Blufferin abtun?
»Ihre Onkel können nicht die hellsten Leuchten im Lampenladen gewesen sein«, sagte er.
Sie vermied es, ihn anzusehen, als sie weitersprach.
»Sie bekamen alle dieselbe Strafe aufgebrummt, fünf Jahre und sechs Monate für schweren Raub. Im Mai vor vier Jahren sollten sie entlassen werden. In jenem Winter fiel ungewöhnlich viel Schnee in Ådalen, und meine Mutter half den Alten beim Schneeräumen, was der Arzt ihr eigentlich verboten hatte …«
Dessie griff nach ihrem Glas und ließ den Wein darin kreisen.
»Sie ist auf Hilding Olssons Auffahrt gestorben, mit dem Schneeschieber in der Hand.«
Sie trank vorsichtig einen Schluck.
»Das Geld auf ihrem Gehaltskonto war völlig unangetastet, und ich war die einzige Erbin.«
» Shit «, sagte Jacob.
Er wirkte nicht erschrocken, eher beeindruckt.
»Sind Ihre Onkel nicht zu Ihnen gekommen und haben das Geld zurückgefordert, als sie aus dem Knast kamen?«
Sie seufzte.
»Natürlich. Sie waren ziemlich hartnäckig, bis ich meinen Cousin Robert in Kalix angerufen und um einen Gefallen gebeten habe. Für 200 000 Kronen und eine Flasche Absolut zu jedem Weihnachtsfest hat er versprochen, dafür zu sorgen, dass die Familie mich in Ruhe lässt.«
Jacob sah sie mit großen Augen an.
»Wow«, sagte er.
»Robert ist zwei Meter groß und wiegt 130 Kilo«, sagte Dessie.
»Dachte mir so was«, sagte Jacob.
Sie sah ihn an.
Die Geschichte, woher sie das Geld hatte, um sich diese Wohnung zu kaufen, hatte ihr seit fast vier Jahren wie ein Stein auf der Seele gelegen. Nun hatte sie das Gespenst ans Tageslicht gezerrt, und Jacob schien nicht im Geringsten erschrocken zu sein.
Auf einmal merkte sie, dass sie kurz davor war, vor Müdigkeit umzukippen.
Sie erhob sich mit dem Glas in der Hand.
»Ich muss jetzt ins Bett«, sagte sie.
Jacob brachte die fast leere Weinflasche in die Küche. Im Flur zog er seine Schuhe an und blieb unschlüssig stehen.
»Sie sind cool«, sagte er leise.
»Sie sind merkwürdig«, erwiderte sie, »wissen Sie das?«
Er schloss die Tür lautlos hinter sich.
Sie presste die Stirn an die Tür und hörte seine Schritte die Steinstufen hinunter verschwinden.
DONNERSTAG, 17. JUNI
59
Malcolm Rudolph hatte seinen athletischen Körper lässig auf den Verhörstuhl drapiert, mit weit gespreizten Beinen und einem Arm über der Rückenlehne. Die strubbeligen Haare hingen ihm in die Stirn und der Hemdkragen war aufgeknöpft.
»Wir sind herumgereist und haben die Kunst und das Leben studiert«, sagte er auf dem Monitor.
Und den Tod, dachte Jacob auf seinem Beobachtungsposten im Kontrollraum. Vor allem habt ihr den Tod studiert, ihr Monster.
»Erst hat das wahnsinnig Spaß gemacht«, sagte der blonde Mann und gähnte. »Aber in den letzten Wochen wurde es dann doch ein bisschen langweilig, ehrlich gesagt …«
Am Anfang fandest du es also lustig, Leute umzubringen, dachte Jacob. Und dann wurde auch das zur Gewohnheit. Wie würde es dir wohl
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