Letzter Kirtag: Ein Altaussee-Krimi
blickte. Als ob plötzlich düstere Gewitterwolken drohend über den Altausseer See zogen, so finster war ihr Blick. „Warum erzählen Sie mir nicht gleich von Ihrer ganzen Familie, wer welche Unterwäsche trägt? Und wer wie oft die Socken wechselt? Kommen Sie zum Wesentlichen!“ Gasperlmaier blickte direkt in den nunmehr wohlbekannten Zeigefinger der Frau Doktor, dahinter, schon etwas unscharf, weil er auf den Zeigefinger fokussierte, ihre hochgezogenen Augenbrauen. Gasperlmaier fiel auf, dass die Nägel der Frau Doktor sehr lang und sehr sorgfältig abgerundet waren. Sehr gepflegt, insgesamt. Die Frau Doktor aber war dem Gasperlmaier mit dem Zeigefinger so nahe gekommen, dass er in seiner beginnenden Alterssichtigkeit diesen nicht einmal mehr gänzlich scharf, sondern nur noch leicht verschwommen wahrnahm. Er fühlte sich plötzlich völlig unfähig, das Wesentliche am Gespräch mit der Natalie vom Unwesentlichen zu scheiden, und wusste nicht weiter. Zaghaft begann er: „Sie hat was mit den Naglreiters zu tun gehabt?“ Die Frau Doktor vollführte eine ungeduldige Handbewegung. „Weiter, weiter!“ Gasperlmaier fühlte sich ein wenig gestärkt, rückte wieder nach vor, da sich der Zeigefinger der Frau Doktor in ihre verschränkten Arme zurückgezogen hatte. Dennoch entging ihm nicht, dass sie ungeduldig mit dem rechten Fuß wippte, den sie über den linken geschlagen hatte. Schade, dachte Gasperlmaier, davon neuerlich abgelenkt. Der Rock und die Schuhe von gestern waren doch viel ansehnlicher gewesen als die plumpen Sporttreter und die ausgebleichten Jeans.
„Also“, begann er neuerlich, „die Natalie hat was mit dem Stefan gehabt. Die sind ein paarmal Boot gefahren, hat sie gesagt. Und der Stefan hat gesagt, dass er sie liebt und dass sie mit ihm nach Wien kommen kann. Weil hier in Altaussee doch alle so rückständig und ihre Eltern überhaupt das Letzte sind. Meint die Natalie. Und sie hat auch angedeutet, die Natalie, dass sie schon mit dem Stefan …“ Gasperlmaier konnte nicht so einfach in die frische, warme Luft des Gastgartens vom Jagdhaus hineinsagen, dass die Natalie mit dem Stefan geschlafen hatte. Die Frau Doktor hatte es aber auch so verstanden. Der Kahlß Friedrich bekam große Augen, fast schienen sie ihm aus den Höhlen herauszuquellen. Gasperlmaier und die Frau Doktor riss es förmlich von ihren Sesseln, als der Friedrich die Faust krachend auf den Tisch niederfahren ließ. „Ja, der Saubartl, der schlechte, die Sauzechn, die geile, der Bazi, der schlechte, der Wiener!“ Fast schien es Gasperlmaier, als habe der Friedrich hier eine Art Steigerung seiner Beschimpfung vorgenommen, mit dem „Wiener“ als Kulminationspunkt sozusagen, der weit über dem Saubartl, aber auch noch über der geilen Sauzechn stand. „Hat der meine Nichte verführt, die Drecksau, die räudige! Und ist doch erst sechzehn Jahre alt!“ Puterrot angelaufen war der Friedrich, sodass sich der Gasperlmaier sorgte, er möchte am Ende hier auf der Seewiese einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt erleiden. Unmöglich schien das dem Gasperlmaier nicht, bei der Leibesfülle des Friedrich. Andererseits, dachte Gasperlmaier bei sich, gab es einen schöneren Ort, dem Leben Ade zu sagen, als die Seewiese am Altausseer See? Gab es eine schönere Aussicht für die letzte Aussicht, einen höheren Genuss als diesen für das brechende Auge?
Die Frau Doktor indessen versuchte das Schlimmste zu verhindern, indem sie den Friedrich beruhigte. „Herr Kahlß, bitte! Nehmen Sie’s nicht so schwer!“ Zu Gasperlmaier gewandt fuhr sie fort: „Sie hat Ihnen doch nicht etwa erzählt, dass er ihr Gewalt angetan hat?“ Gasperlmaier zuckte mit den Schultern. „Direkt eigentlich nicht, es war nur so, dass sie plötzlich gar nichts mehr gesagt hat, als ich auf das Thema gekommen bin, und da musste ich halt, da habe ich die Schlussfolgerung …“ Wiederum ließ Gasperlmaier das Ende eines seiner Sätze haltlos in der Luft hängen. Die Christine hatte ihn schon zahllose Male darauf aufmerksam gemacht, dass das eine unerträgliche Unart von ihm war, und mit ihm sogar schon trainiert, wie Sätze, die einmal begonnen waren, auch zu Ende geführt werden konnten. Sehr viel hatte Gasperlmaier bei den Trainings nicht dazugelernt, vor allem, wenn er in Stresssituationen geriet, gelang ihm das mit dem Zu-Ende-Sprechen seiner Sätze nur selten. „Und was, bitte, ist eine Sauzechn?“, flüsterte die Frau Doktor dem Gasperlmaier ins Ohr. Der war
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