Letzter Kirtag: Ein Altaussee-Krimi
der Stefan Naglreiter jetzt auch tot ist. Am Leben sind in diesem ganzen Beziehungsgeflecht nur mehr die Natalie, die Judith und der Marcel Gaisrucker. Sofern wir nicht jemanden übersehen haben, zu dem eines der Mordopfer zusätzlich eine Beziehung, welcher Art auch immer, unterhalten hat.“ Die Frau Doktor stützte den Kopf in die Hände und starrte die Schreibtischplatte an. Wohl, um sich besser konzentrieren zu können, wie Gasperlmaier bei sich dachte. Der Kahlß Friedrich allerdings störte sie dabei. „Und der Herr Podlucki, der angeblich den Stefan Naglreiter gefunden hat? Genauso gut hätte er ihn und seinen Vater umbringen können, der ist eine Zeitbombe, sage ich Ihnen. Und dann die Ines, die Freundin von dem Gaisrucker. Vielleicht war sie eifersüchtig? Und wer weiß, mit wie vielen Männern die Naglreiter sonst noch im Bett war? Und er? Wie viele Weiber hat der angebraten? Vielleicht waren sie ja sogar in einem Swingerclub! Oder die Russen?“
Gasperlmaier beschlich der Verdacht, dass sich der Kahlß Friedrich so in Eifer redete, weil er die Frau Doktor davon ablenken wollte, sich allzu sehr mit der Natalie zu beschäftigen. Aber auch Gasperlmaier machte der Gedanke Magenschmerzen, dass die Natalie und die Evi, die Schwägerin des Kahlß, irgendwie in die Affäre verwickelt sein könnten. Wenn doch, dachte Gasperlmaier, die Pubertierenden an der kurzen Leine gehalten würden, wenn man sie einfach zu Hause behielte und überhaupt nicht fortlassen würde, bis sie Vernunft angenommen hatten, dann wäre das alles viel einfacher, und sie müssten sich jetzt keine Gedanken um das Schicksal der Natalie machen.
Inzwischen war es Abend geworden, was Gasperlmaier nicht nur daran merkte, dass die bereits tief stehende Sonne zum Fenster hereinschien, sondern auch daran, dass sein Magen, wenn auch nicht hörbar, so doch deutlich spürbar Knurrgeräusche von sich gab. „Vielleicht“, wagte Gasperlmaier vorzuschlagen, „besorgen wir uns jetzt etwas zu essen.“ Der Kahlß Friedrich erhob sich, trotz seiner Sorge um die Natalie und seine Schwägerin, sogleich und nickte zustimmend. „Keine Chance, meine Herren.“ Die Frau Doktor schob ihren Laptop in eine schwarze Tasche und zog deren Reißverschluss zu. „Wir besuchen jetzt die Judith Naglreiter. Ich hoffe, sie kann uns zu den Fotos einiges erklären. Wir müssen unbedingt mehr über die Persönlichkeit des Naglreiter, über seinen Hintergrund herausfinden, dazu war bis jetzt ja keine Zeit.“
Gasperlmaier warf dem Kahlß Friedrich einen gequälten Blick zu, der jedoch zuckte nur mit den Schultern. Wie Gasperlmaier wusste, konnte der Friedrich zwar Unmengen von Essen in kurzer Zeit in sich hineinstopfen, jedoch ebenso gelassen die eine oder andere Mahlzeit ausfallen lassen, um bei der darauffolgenden umso kräftiger zuzulangen. Gasperlmaier jedoch wusste, dass ihm ein einmal nagendes Hungergefühl gründlich das Wohlbefinden verdarb. Dennoch trottete er gehorsam hinter der Frau Doktor her, ohne dass ihm eine zündende Idee gekommen wäre, wo er auf dem Weg zum Haus der Naglreiters ohne Zeit- oder Gesichtsverlust Nahrungsmittel würde auftreiben können. Mit sehnsüchtigen Blicken, jedoch ohne sich zu äußern, ließ er ein Wirtshaus um das andere am Autofenster vorbeigleiten, ebenso den Lebensmittelmarkt.
Vor dem Haus der Naglreiters parkte ein Auto des Roten Kreuzes, und auf das Klingeln der Frau Doktor öffnete eine Frau mittleren Alters in Rotkreuz-Kleidung, die der Frau Doktor und den beiden Polizisten die Hände schüttelte und sich als Birgit Schwarz vorstellte. „Ich bin von der Krisenintervention. Wie es ausschaut, bleibe ich noch länger hier.“ „Wie geht es der Judith?“, fragte die Frau Doktor, noch bevor sie das Haus betraten. „Den Umständen entsprechend“, antwortete die Frau Schwarz. Gasperlmaier hasste diese Formel. Was sollte das eigentlich heißen? Dass man sich selber überlegen sollte, welcher Zustand nach den Ereignissen, die der Judith widerfahren waren, für diese angemessen und normal war? Gasperlmaier war die Frau Schwarz sofort unsympathisch, auch weil sie so ein sauertöpfisches Gesicht mit von den Mundwinkeln nach unten verlaufenden Furchen hatte, das ihm verriet, dass sie eine schwere Raucherin sein musste, die wenig lachte. Das Gesicht, dachte Gasperlmaier bei sich, das ist auch den Umständen entsprechend. Und das sind keine angenehmen. Gasperlmaier hoffte nur, dass seine Familie niemals von einer Katastrophe
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