Letzter Kirtag: Ein Altaussee-Krimi
ein wenig nachgelassen, und die Judith antwortete: „Natürlich haben sie sich gestritten. Wie jeden Tag. Und immer um das Gleiche. Der Papa hat ja keinen Rockzipfel ausgelassen, den er auch nur aus der Ferne gesehen hat. Er ist ja sogar bei mir, natürlich zufällig, immer ins Badezimmer gekommen, sobald ich einen Busen gehabt hab.“ Die Judith warf der Frau Doktor einen Blick zu. „Nein, nicht dass Sie glauben, dass er mich missbraucht hat oder so, er hat einfach immer nur geschaut. Und er war bei diesen Gelegenheiten sogar ausnahmsweise nett zu mir, mir hat es damals gefallen, dass er mich als Frau wahrgenommen hat. Glauben Sie das oder nicht.“
Die Frau Doktor hatte die Augenbrauen ziemlich weit hochgezogen. Das, was die Judith erzählte, galt, wie Gasperlmaier wusste, schon als Grenzfall zur sexuellen Belästigung – beobachten, Türen öffnen und so tun, als habe man sich geirrt, wenn man genau wusste, dass die Tochter dahinter duschte. Gasperlmaier fielen die Fotos ein, die der Doktor Naglreiter von der Judith und der Natalie gemacht hatte. „Und dann ist es natürlich vor allem darum gegangen, dass der Papa ständig der Natalie hinterhergeschnüffelt hat, wenn sie da war, und um die Affären der Mama, die mit jedem Trainer, der sich um sie gekümmert hat, gevögelt hat, wenn er nur halbwegs brauchbar ausgesehen hat. Das Gleiche halt wie jeden Tag.“
Kein Wunder, dachte Gasperlmaier, dass solche Menschen wie die Naglreiters ein gewaltsames Ende finden mussten. Wenn man sich so wenig unter Kontrolle hatte, was sein Sexualleben betraf, dann war es ja geradezu zwangsläufig, dass sich die Konflikte aufeinandertürmten, bis es irgendwann einmal einen Ausbruch geben musste. Dennoch, fragte sich Gasperlmaier, wie war es danach weitergegangen, nachdem der Doktor Naglreiter seine Ehegattin ins kühle Grab geschickt hatte? Es war ja wohl kaum anzunehmen, dass sie ihm vorher den Hirschfänger aus der Lederhose gezogen und ihn damit in den Bauch gestochen hatte, worauf der Doktor Naglreiter seelenruhig ans Ufer gerudert war, sich im Bierzelt niedergelassen hatte und verstorben war. Da mussten ja noch andere hasserfüllte Zeitgenossen herumlaufen, die den Doktor Naglreiter und seinen Sohn auf dem Gewissen hatten.
„Frau Naglreiter“, fragte die Frau Doktor jetzt, nachdem die Judith sich ein wenig beruhigt hatte, aber immer noch das nicht existierende Programm auf dem Fernseher gebannt zu verfolgen schien, „können Sie sich vorstellen, dass Ihr Bruder oder sonst jemand noch vor uns mitbekommen hat, dass Ihr Vater Ihre Mutter getötet hat, und dass er aus Zorn darüber oder aus Rachegefühlen heraus Ihren Vater erstochen hat?“ Erschrocken blickte die Judith auf. Gasperlmaier schrak ebenfalls auf. Hatte die Frau Doktor da eben angedeutet, dass womöglich die Judith oder der Stefan mitbekommen hatten, dass der Vater die Mutter umgebracht hatte, und dass er oder sie daraufhin entsprechend reagiert und den Täter gleich selbst gerichtet hatten?
„Ich hab doch keine Ahnung gehabt!“, flennte die Judith. Die Frau Doktor reichte ihr ein Taschentuch, in das sie sich lautstark schnäuzte. „Sie sind doch selber da gewesen! Gestern in der Früh! Als Sie uns erzählt haben, dass der Papa tot ist! Da haben wir doch noch keine Ahnung gehabt, dass die Mama auch …“ Die Judith wurde von einem neuerlichen Weinkrampf geschüttelt. Polternd öffnete sich die Balkontür und mit der Frau Schwarz breitete sich ein Schwall tabakgeschwängerter Luft im Wohnzimmer aus. „Jetzt lassen S’ doch das arme Mädel in Ruhe!“, krächzte sie. Wenn sie sich aufregte, dachte Gasperlmaier, dann brach doch die zum Gesicht passende Raucherstimme durch. „Sehen Sie denn nicht, dass sie völlig fertig ist? Sie hat bestimmt niemandem etwas getan!“
Die Frau Doktor Kohlross, bemerkte Gasperlmaier, begab sich in Kampfposition, der Kopf und die Arme wanderten nach vor, der ganze Körper war angespannt. „Ich kann sehr wohl beurteilen, ob jemand in der Lage ist, eine Aussage zu machen!“, fauchte sie die Frau Schwarz an, die vorsichtshalber in der Nähe der Balkontür angehalten hatte. „Ich tue nur, was notwendig ist. Ich bin mir durchaus bewusst, dass die Frau Naglreiter hier an der Grenze ihrer Belastungsfähigkeit ist. Aber schließlich geht es gerade darum – herauszufinden, wer für ihren Zustand verantwortlich zu machen ist!“
Die Frau Doktor Kohlross war sicherlich ein wesentlich tröstlicherer Beistand für jemanden in
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