Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
klatschendes Geräusch, als hätte jemand nach einer durch das Zimmer huschenden Ratte geschlagen. Dann zerriss kein menschlicher Schrei, sondern das Heulen eines Tieres die Stille der Nacht.
    Der Zauberwürfel rettete ihn.
    Einer der Jungs trat darauf, rutschte aus und knallte mit dem Knie gegen den Teakholztisch, der daraufhin umfiel.
    Masterji wachte auf.
    Er griff sofort nach der blauen
Illustrierten Geschichte der Naturwissenschaften –
hatte er innerlich darauf gewartet, für diesen Augenblick geprobt? – und rannte aus seinem Schlafzimmer; ehe sie ihn überhaupt wahrgenommen hatten, hatte er dem Erstenschon das Buch auf den Kopf geknallt. Er brüllte «Diebe!» und stieß mit einer Kraft, die er bei Tag nicht hätte aufbringen können, einen der Jungen weg, der taumelte und den anderen anrempelte, der neben dem Telefon zu Boden ging. Hoch erhob sich die
Illustrierte Geschichte der Naturwissenschaften
und krachte auf den Kopf des Jungen, der aufheulte. Die beiden Schlägertypen hatten eine vernichtende Niederlage erlitten und hasteten durch die offene Tür, wo einer stolperte und die Treppe hinabstürzte. Inzwischen wollten sie nur noch heil davonkommen, da sie es nicht, wie man ihnen erzählt hatte, mit einem hilflosen alten Mann zu tun hatten, den sie schikanieren und bedrohen sollten, sondern ganz offenbar mit einem leibhaftigen Ungeheuer. Sie rannten auf das Grundstück hinaus und sprangen über das Tor.
    Masterji schob das Sofa an die Tür, um sich gegen einen zweiten Angriff zu verbarrikadieren.
Purnima,
sang er immer wieder vor sich hin,
Purnima.
Er schob den Stuhl vor das Sofa.
    Dann schien im plötzlich, dass dies die falsche Strategie wäre. Er musste rein- und rausrennen können, wenn er noch mal attackiert wurde, und die Tür musste frei sein. Er schob das Sofa und den Stuhl wieder zurück an ihre Plätze.
    Er ließ Wasser in einen Topf laufen, drehte das Gas auf und brachte das Wasser zum Kochen. Er würde es ihnen über die Köpfe schütten, sollten sie zurückkommen. Kniend untersuchte er die Gasflasche. Vielleicht könnte er es hinkriegen, dass sie ihnen direkt ins Gesicht explodierte?
    Purnima,
dachte er,
Purnima.
Er versuchte, sich das Gesicht seiner Frau vor Augen zu führen, aber es entstand kein Bild; er konnte sich nicht daran erinnern, wie sie ausgesehen hatte. Gaurav, rief er innerlich, Gaurav, aber er konnte sich auch nicht an sein Gesicht erinnern … Er sah nur Dunkelheit, und dann schälten sich aus dieser Dunkelheit Menschen heraus, Männer verschiedener Rassen standen in weißen Hemden dicht nebeneinander. Er erkannte sie, es waren die Pendler aus den Vorortzügen.
    Jetzt fiel ein Sonnenstrahl in das Abteil, und ihre unterschiedlichen Gesichter strahlten wie ein einziges menschliches Licht, das sich in Farben zerlegte. Er suchte nach dem Gesicht des Tagelöhners vom Crawford Market; er konnte es nicht finden, aber es gab andere wie ihn. Die vibrierenden grünen Polster und grün gestrichenen Wände des Wagens umgaben sie mit einem Leuchten. «Beruhigen Sie sich, Masterji», sagten die gleißenden Männer in den weißen Hemden, «denn wir sind alle auf Ihrer Seite.» Jetzt begriff er, dass nicht er die beiden Jungen niedergeschlagen hatte, sie hatten es für ihn getan. Hinter dem Gitter zum gelben Zweite-Klasse-Abteil wandten sich ihm die Gesichter zu, und die Leute sagten: «Auch wir sind auf Ihrer Seite.» Sie standen dicht gedrängt um ihn, er spürte, wie sich andere Hände in seine schoben, und jedes Murmeln, jedes Flüstern, jedes Quietschen des Zuges sagte: Ich wurde nie geboren, und ich werde nie sterben; ich verletze nicht und kann nicht verletzt werden; ich bin unbesiegbar, unsterblich, ich bin unverwüstlich.
    Masterji öffnete den Schnapper, ließ seine Tür unverschlossen und schlief ein.

3. OKTOBER
    «Sir.» Nina wandte sich an ihren Arbeitgeber. «Sie sollten selber nachschauen, wer da ist.»
    Mr Pinto stand von seinem Frühstück auf, ein Masala-Omelett mit drei Eiern mit gebuttertem Toast und Ketchup, und schlurfte in seinen braunen Ledersandalen zur Tür.
    Er sah, wer vor der Tür stand, und drehte sich um. «Nina!», rief er. «Komm her.»
    Draußen stand Masterji.
    «In der Nacht war ich sicher, dass Mr Shah dahintersteckte», sagte Masterji. «Und dann habe ich mich bis zum Morgen sicher gefühlt. Aber als ich aufwachte, dachte ich, diese Jungs haben ja nicht die Tür aufgebrochen. Sie hatten einen Zweitschlüssel. Von wem hatten sie den

Weitere Kostenlose Bücher