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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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anderen riss er die Seiten aus dem Streitvermeidungsbuch, riss dann jede Seite in vier Stücke und zerfetzte dann jedes dieser Stücke zu noch kleineren Stücken.
    Unten in 2 A drehte sich Mr Pinto, der an seinem Esstisch saß, zum Fenster und beobachtete den papiernen Schneefall. Das war alles, was von einer zweiunddreißig Jahre dauernden Freundschaft übrig geblieben war.
    Ein schabendes Geräusch war von unten zu hören. Mary fegte das Konfetti in eine Plastiktüte. Masterji beobachtete sie, er wartete darauf, dass sie zu ihm aufsah, wartete darauf, ein einziges freundliches Gesicht in seiner Wohnungsgenossenschaft zu sehen. Aber sie blickte nicht auf.
    Da begriff er, dass sie sich schämte. Auch sie hatte gewusst, was passieren sollte.
    Ein Schatten fiel auf Marys gebeugten Rücken: Ein Falke schwebte über sie hinweg in eines der offenen Fenster von Turm B hinein.
    «Komm in
diesen
Turm!», rief Masterji.
    Von seinem Fenster aus beobachtete er, wie der Falke aus Turm B wieder herausflog, als hätte er seinen Befehl vernommen.
    Und nicht nur du.
    Tauben, Krähen, Kolibris, Spinnen, Skorpione, Silberfische, Termiten und Ameisen, Fledermäuse, Bienen, Wespen, Moskitoschwärme.
    Kommt, ihr alle, und beschützt mich vor den Menschen.
    Das Kricketspiel vor dem tamilischen Tempel war zu Ende. Ein gutes Spiel für Timothy, seine Mutter hatte ihn nicht dabei erwischt, und er hatte an diesem Nachmittag die meisten Runs erzielt.
    Kumar, der größte der Jungen, die mit Timothy spielten, war schlecht gewesen. Seine Schicht als Putzkraft im Konkan Kinara, einem billigen Restaurant am Bahnhof Santa Cruz, würde bald beginnen, und er marschierte über das Brachland um Vakola in den Slums hinter dem Bandra-Kurla-Finanzzentrum. An diesem Abend hinkte er; mit dem Kricketschläger in der Hand fegte er über das hohe Gras zu beiden Seiten des lehmigen Pfades. Ein paar Schritte vor ihm lief Dharmendar, der Gehilfe des Zweiradmechanikers, mit den Händen in den Taschen, und starrte zu Boden.
    Aus dem hohen Gras sprang ein kleiner, dunkelhäutiger Mann in einem blauen Anzug auf sie zu.
    «Onkel Ajwani», sagte Kumar.
    Der Makler verpasste Dharmendar einen Schlag auf den Kopf. «Der allereinfachste Job.» Ein zweiter Schlag. «Ihr solltet doch bloß einem alten Mann etwas Angst einjagen. Einem einundsechzig Jahre alten Mann.»
    Ajwanis Stirn schwoll an, seine Kopfhaut spannte sich und die Sehnen an seinem Hals traten hervor. Er versprühte Spucke, er fluchte.
    Kumar legte seinen Kricketschläger weg und stellte sich neben Dharmendar, um zu zeigen, dass auch er Verantwortung übernahm. Er senkte den Kopf, aber es war unter Ajwanis Würde, ihm einen Schlag zu versetzen. Er wischte sich die Hände an seinem Safarianzug ab, als hätte er sie sich durch die Berührung mit einem derart unwürdigen Menschen schmutzig gemacht.
    «Ihr hattet den Schlüssel, ihr musstet bloß reingehen, ihm den Mund zuhalten und einen Denkzettel verpassen. Und nicht mal das habt ihr hingekriegt.»
    «Er war … sehr aggressiv, Onkel Ajwani.»
    Der Makler machte ein finsteres Gesicht. «Und jetzt spielt ihr
Kricket!»
    «Verzeih uns, Onkel», sagte Kumar, «für solche Jobs eignen wir uns nicht.»
    Ein Flugzeug mit dem Rot-Weiß der Air India stieg in den Himmel auf. Während es über sie hinwegdröhnte, fluchte Ajwani und spuckte ins Gras.
    «Wie viele Jungen warten auf einen solchen Auftrag? Auf die Gelegenheit, schnelles Geld zu machen. Den Start zu einer Karriere in der Immobilienbranche. Und ich musste mir ausgerechnet euch zwei aussuchen. Kumar, habe ich für deine Familie nicht einen Platz im Slum gefunden? Hättet ihr sonst für 2500 Rupien im Monat ein Dach über dem Kopf?»
    «Nein, Onkel.»
    «Und du, Dharmendar; habe ich nicht deiner Mutter geholfen, eine neue Stelle als Dienstmädchen in der Silver Trophy Society zu finden? Ich bin doch extra dorthingegangen und habe persönlich mit dem Verwalter gesprochen!»
    «Ja, Onkel.»
    «Und dann lasst ihr mich derart im Stich. Laufen vor einem einundsechzig Jahre alten Mann davon …» Er schüttelte den Kopf. «Und jetzt wird die Polizei kommen. Und hinter mir her sein.»
    «Verzeih uns, Onkel.»
    «Was ist mit dem Schlüssel, den ich euch gegeben habe?» Ajwani streckte die Finger aus.
    «Wir haben den Schlüssel verloren», sagte Kumar.
    «Als wir aus dem Gebäude gerannt sind, Onkel.»
    «Den Schlüssel verloren!», brüllte Ajwani. «Wenn die Polizei kommt, um mich zu verhaften, sollte ich ihnen eure

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