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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Rand und sah zum schwarzen Kreuz hinunter, das von Mrs Saldanha mit einer Girlande geschmückt wurde.
    Sie betet bestimmt für meinen Tod,
dachte er.
    Er wanderte auf der Dachterrasse im Kreis herum. Nach einer Weile sah er, dass von unten kleine Gesichter nach oben starren. Ajwani, Mrs Puri und der Verwalter beobachteten ihn.
    Diejenigen, die in der vergangenen Nacht versucht hatten, ihn in seiner Wohnung zu attackieren, starrten jetzt mit offenem Mund zu ihm hoch, als wäre
er
jemand, vor dem man sich fürchten müsse. Wie monströs musste einer Giftspinne wohl ein Kindergesicht im Schein einer Taschenlampe vorkommen. Er lächelte.
    Das Lächeln verschwand.
    Sie zeigten auf ihn und flüsterten einander zu.
    «Geh sofort wieder runter», sagte er zu sich. «Wenn du hier oben bleibst, verschaffst du ihnen nur eine gute Ausrede, dir etwas noch Schlimmeres anzutun.»
    Eine halbe Stunde später war er immer noch dort oben, hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt, zog seine Kreise auf der Dachterrasse und war genauso wenig in der Lage, damit aufzuhören, wie jene dort unten aufhören konnten, ihn dabei zu beobachten.

NEUNTES BUCH
DIE ALLEREINFACHSTE SACHE

4. OKTOBER
    Sie standen, weiß und rosafarben, auf einem Metalltablett vor der Muttergottesfigur hinter Glas; ihre einzelnen Flammen verschmolzen zu einer einzigen großen, die flackerte, abwechselnd dem Seewind und den Bittgesängen der knienden Büßer antwortete. Dicke, geschwärzte Dochte ragten aus den schmelzenden Kerzen wie ein Knochen aus einer Wunde.
    Weißes und rosafarbenes Wachs tropfte wie lautes geschmolzenes Fett auf die metallene Untertasse und härtete sich dann zu weißen Flocken, die wie Schnee durch die Gegend wehten.
    «Wie lange wird Mummy heute beten?»
    Die Muttergottes stand auf einer Terrasse, das Meer von Bandra im Rücken und die steingraue neogotische Fassade der Mount-Mary-Kirche vor sich.
    Sunil und Sarah Rego warteten an der Terrassenmauer; Mrs Puri stand neben ihnen, fuhr Ramu durchs Haar und drängte ihn, die Wörter zu sprechen (die er früher so gut aufsagen konnte): «Heilig römisch-katholisch.»
    Es war Mrs Puris Idee gewesen, hierherzukommen; das schwarze Kreuz auf dem Vishram-Grundstück hatte sie im Stich gelassen. Hatte Gebet für Gebet und Blumengirlande für Blumengirlande geschluckt und nichts dafür getan, um Masterjis Meinung zu ändern.
    So hatte sie alle dazu gebracht, in zwei Autorikschas zu steigen, den Schwaden der Kahr-U-Bahn zu trotzen und hierherzukommen, zur berühmtesten Kirche der Stadt.
    Mrs Rego kniete vor der Muttergottes, hatte die Hände gefaltet, die Augen geschlossen, und ihre Lippen bewegten sich stumm.
    Sunil hatte erstaunlich lange gebetet; nun beugte er sich überden Terrassenrand und las laut die heiligen Worte, die auf die Treppen gemalt waren.
    «Das heißt ‹Rosenkranz›. Und das nächste Wort heißt ‹Opfer›. Und das heißt ‹Sühne›. Das ist ein großes Wort. Mummy kann damit Tante Catherine übertrumpfen.»
    Mummy hatte sich seit einer halben Stunde nicht gerührt. Der Mann, der neben Mrs Rego gebetet hatte, stand auf; eine alte Frau im lilafarbenen Sari füllte die Lücke und berührte mit der Stirn dreimal den Boden.
    «Ist jemand krank? Daddy auf den Philippinen?»
    «Sei still, Sarah», flüsterte Sunil.
    «Warum betet Mummy denn sonst so lange?»
    Eine halbe Stunde später gingen alle fünf den Hügel hinunter zum Bandra Bandstand. Bei einem Straßenverkäufer kauften sie vier Teller
bhelpuri,
Puffreis mit Gemüse, und setzten sich in den Schatten; Sunil und Sarah verschlangen ihre Portionen, während Mrs Puri einen Löffel ihres
bhelpuris
Ramu in den Mund bugsierte.
    «Warum ist heute keiner vom Confidence-Konzern gekommen, um uns zu sagen, dass die Frist abgelaufen ist?», fragte Mrs Rego.
    «Mr Shah ist bestimmt dabei, die Unterlagen für sein halbes Shanghai vorzubereiten. Er wird wahrscheinlich morgen Shanmugham bei uns vorbeischicken.»
    Ramu kaute. Seine Mutter beobachtete ihn und schob ihm sanft einen verirrten Puffreiskrümel in den Mund.
    «Wissen Sie, dass alle in Turm B letzte Woche ihre letzte Rate bekommen haben?»
    «So schnell?»
    «Ja, wieder vor dem vereinbarten Termin. Ritika hat mich angerufen. Dieser Mann, dieser Mr Shah, der hält wirklich sein Wort.»
    Mrs Puri schob ihrem Sohn noch einen gehäuften Löffel in den Mund.
    «Wissen Sie, was
Kala Paani
bedeutet? So haben sie früher das Meer genannt. Die Menschen hatten Angst, es zu überqueren. Ajwani

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