Letzter Mann im Turm - Roman
Dachterrasse. Vor ungefähr einer Stunde. Sie sagen, es war Selbstmord.»
Shah öffnete seinen roten Mund. Mit geschlossenen Augen presste er den Kopf in das weiße Kissen. «Ich habe gedacht, sie stoßen ihn die Treppe hinunter oder verpassen ihm nachts eine Tracht Prügel. Nicht mehr als das.»
Er streichelte das weiche Kissen.
«Ich habe vergessen, dass wir es mit anständigen Leuten zu tun haben, Shanmugham.»
Der fette Mann kletterte aus dem Bett und verstreute dabei lauter Papiere.
«Du fährst zurück nach Vakola und fragst deinen Bekannten auf der Polizeiwache, wie der Stand der Ermittlungen ist. Ich rufe den Astrologen in Matunga an und lasse mir ein Glück verheißendes Datum für den Abriss vorhersagen.»
7. OKTOBER
MUMBAI SUN
SELBSTMORD IN SANTA CRUZ (OST)?
Von einem unserer Reporter
Mr Yogesh Murthy, ein pensionierter Lehrer der berühmten St. Catherine’s School in diesem Viertel, hat angeblich gestern Abend Selbstmord begangen; er soll vom Dach der Vishram Society in Vakola, Santa Cruz (Ost) gesprungen sein.
Es besteht zwar kein Verdacht auf Fremdeinwirkung, dennoch sagt die Polizei von Santa Cruz, dass sie zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeiten ausschließen kann. Die Ermittlungen laufen.
Es wird jedoch angenommen, dass der Verstorbene nach dem Tod seiner Frau vor genau einem Jahr in sehr schwere Depressionen geraten ist. Bewohner aus der Nachbarschaft sagen, dass er wegen seines Diabetes und aus Altersgründen mehr und mehr den Verstand verloren habe, sich in seine Wohnung zurückgezogen und Selbstgespräche geführt habe, sich unsozial verhalten und sich mit seiner gesamten Wohnungsgenossenschaft wegen eines Sanierungsangebotes zerstritten habe, das er als Einziger nicht annehmen wollte. Dr. C. K. Panickar, Psychiater am Lilavati Hospital in Bandra, sagt, dass er klassische Symptome geistiger Zerrüttung aufwies. «Paranoia, passiv-aggressive Persönlichkeitsveränderung, selbst Schizophrenie können angesichts des Verhaltens dieser Person während ihrer letzten Tage nicht ausgeschlossen werden», meint der Arzt.
Der Verstorbene hinterlässt einen Sohn, Gaurav, wohnhaft in Marine Lines, und einen Enkelsohn, Ronak.
EPILOG
MORD UND WUNDER
15. DEZEMBER
Der kleine dunkelhäutige Mann in dem blauen Safarianzug ging zwischen den Gemüseständen hindurch und war enttäuscht, dass ihn an diesem Morgen niemand so ansah, als wäre er ein Mörder.
Beinahe zwei Monate lang hatten die Wassermelonen- und Ananasverkäufer darüber diskutiert, wie es dieser Makler aus Vishram, Ajwani, der auf der anderen Straßenseite in diesem kleinen Maklerbüro mit der Glastür saß, fertiggebracht hatte, dass einer seiner Kontakte aus der Unterwelt Masterji umgebracht hatte – nein, wie er es selbst getan, sich im Schutz der Dunkelheit auf Zehenspitzen in die Vishram Society hineingeschlichen und den alten Lehrer mit seinen dicken Armen auf die Dachterrasse getragen hatte. Wenn sie sich umdrehten, stand Ramesh Ajwani da und fragte, immer lächelnd: «Na, was kosten heute die
brinjals?»
Und dann feilschten sie mit ihm, denn als Mörder bekommt man
brinjals
nicht unbedingt billiger.
Er war der erste Verdächtige gewesen. Nagarkar, der Kommissar, hatte ihn am Morgen nach dem Todesfall zur Wache beordert; er wusste, dass Ajwani Verbindungen zu zwielichtigen Gestalten in ganz Vakola hatte. (Die dubiosen Kunden, für deren Führungszeugnisse er wiederum bei ihnen Bestechungsgelder gezahlt hatte!) Einen halben Tag lang nahm ihn der Inspektor unter dem Porträt von Siddhi Vinayak in die Mangel. Aber seine Geschichte war wasserdicht. Ein Dutzend Leute erinnerte sich, den Makler am Abend von Masterjis Tod zu unterschiedlichen Zeiten vor dem Bahnhof Dadar gesehen zu haben; es hieß, er habe unter heftigen Magenkrämpfen gelitten und habe dort gelegen, sich windend und unansprechbar.
«Wenn Sie es nicht getan haben, wer war es dann?», fragte der Kommissar. «Erwarten Sie wirklich von mir, dass ich glaube, dass es Selbstmord war?»
«Keine Ahnung», sagte Ajwani. «Ich bin erst nach Mitternacht heimgekommen. Mir ging’s nicht gut. Die Polizei war schon da.»
Als Nächster wurde der Verwalter von der Polizei vorgeladen. Aber drei Zeugen hatten ihn zum Zeitpunkt von Masterjis Tod in Ajwanis Maklerbüro gesehen. Einer von ihnen war Mani, der Maklergehilfe, die anderen beiden waren Ibrahim Kudwa und Mr Puri, zwei seiner Nachbarn, beides ehrbare Männer. Es stellte sich heraus, dass alle Bewohner der Vishram Society
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