Letzter Mann im Turm - Roman
Vaters ging und fragte: «Kann ich ein Fahrrad haben, Vater? Es ist mein sechzehnter Geburtstag», und ein «Nein» zu hören bekam, obwohl einer seiner jüngeren Halbbrüder eines bekommen hatte. Da begriff er, dass von den Söhnen einer ersten Frau erwartet wurde, zweite Wahl zu sein, und weil er ein solches Leben nicht führen wollte, verließ er am nächsten Morgen mit seinen Ersparnissen, zwölf Rupien und achtzig Paise, sein Zuhause. Er ging zu Fuß, nahm den Bus, nahm den Zug, war pleite und ging wieder zu Fuß, bis ihm die Sandalen abfielen und er sich Bananenblätter um die Füße wickeln musste. Erreichte Mumbai. Er war nie wieder nach Krishnapur zurückgekehrt.
«Nie wieder?»
«Warum sollte ich? In einem Dorf hat der Mensch lauter soziale Verpflichtungen, Rosie. Versucht, seinem Vater zu gefallen, seinem Großvater, seinen Brüdern, seinen Vettern. Seiner Kaste. Seiner Gemeinschaft. Hier ist der Mensch frei. Hier in der Stadt.»
Rosie wartete auf die Fortsetzung, aber er war verstummt; sie stand vom Tisch auf.
«Ich bring dir gleich den Toast, Onkel.»
«Mit jeder Menge Butter.»
«Als ob ich das nicht wüsste. Das ist das Einzige, was du wirklich liebst – frische Butter.»
Wenig später leckte er die Butter von den dreieckigen Toaststücken. Sie wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab und beobachtete ihn aus der Küche.
«Ist heute was vorgefallen, Onkel? Du bist sehr gesprächig.»
«Satish ist in Schwierigkeiten. Zum zweiten Mal in diesem Jahr.»
«Was für Schwierigkeiten, Onkel?»
«Bring mir noch mehr Toast.»
Rosie brachte die frisch getoasteten Scheiben, die sie mit den Fingern auf seinen Teller schnipste.
«Das Shanghai, Rosie. Habe ich dir erzählt, dass mein neues Bauprojekt so heißt?»
«Was ist Satish zugestoßen, Onkel?»
«Ich will nicht über ihn reden. Ich will über meinen Shanghai-Bau reden.»
«Laaangweilig, Onkel. Du weißt, dass ich dieses Baugelabere nicht mag. Marmelade?»
«Jeder Mann möchte, dass man sich an ihn erinnert, Rosie. Ich auch. Wenn man krank wird, denkt man über diese Dinge nach. Ich habe als Subunternehmer angefangen, habe dann Slums saniert, denn die großen Erschließungsunternehmen wollten sich nicht die Finger schmutzig machen. Wenn ich einem Politiker in den Arsch kriechen musste, habe ich es getan; wenn ich einem anderen Geld für seinen Wahlkampf rüberschieben musste, sei’s drum. Ich bin aufgestiegen, habe mich zu ungeahnten Höhen aufgeschwungen. Ich besitze eine Wohnung in Malabar Hill. Ich habe mir beigebracht, wie man stilvoll baut. Der Jugendstil von Marine Lines. Die Neogotik des Victoria Terminus. Und ich werde all diese Stilarten in dieses neue Gebäude integrieren, das Shanghai. Wenn es fertig ist, wenn sie es sehen, glänzend und modern, werden die Leute meine Lebensgeschichte verstehen.»
Als er in die Stadt kam, wo er niemanden kannte, hatte er inder Schlange vor einem Jain-Tempel in Kalbadevi gestanden und zweimal am Tag Essen bekommen; einem Ladenbesitzer taten seine Füße leid, und er warf ihm seine eigenen
chappals
zu; dann arbeitete er als Laufjunge für diesen Ladenbesitzer und binnen eines Jahres führte er selbst einen Laden.
In einer sozialistischen Planwirtschaft muss ein kleiner Geschäftsmann ein Dieb sein, um Erfolg zu haben. Er war noch keine zwanzig, da schmuggelte er Waren aus Dubai und Pakistan. Hätte ihn etwa das Gewissen plagen sollen, weil er mit dem Feind Geschäfte machte, wo ihn doch sein eigenes Land wie den letzten Dreck behandelte? Die Schieberei fiel ihm leicht; auf Lastwagen, die als «Weizenlieferungen für den Notfall» gekennzeichnet waren, importierte er kistenweise ausländische Armbanduhren und Wecker nach Gujarat und Bombay. Aber dann wurde die Verfassung Indiens außer Kraft gesetzt – die Polizei bekam den Befehl, alle Schwarzhändler, Schmuggler und Steuerhinterzieher festzunehmen. Selbst wenn man diese Phase grässlich fand, musste man den Mumm bewundern – das einzige Mal, dass jemand in diesem Land Entschlossenheit gezeigt hatte. Er musste sein Schwarzgeld loswerden –
der Mensch ist aus Erde geformt,
dachte er,
und da konnte er sein Geld genauso gut wieder in die Erde stecken.
Eine Baufirma wurde gegründet – sie trug selbstverständlich einen englischen Namen, gehörte zu seiner neuen Welt, in der bloß Talent und sonst nichts zählte. Schmuggelei war etwas für kleine Fische, stellte er fest, das wahre Geld dieser Welt lässt sich auf legale Weise erwerben. Er begann
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