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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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hältst mich für eine Prostituierte. Du nimmst mich nie mit zu dir nach Hause. Nie –»
    «Eins», zählte er. «Zwei. Drei. Vier.»
    Ein Frauengesicht lugte hinter der geöffneten Tür hervor.
    Eine Stunde später wusch sich Mr Shah in ihrem Badezimmer Gesicht, Hände und Brust. Durch das Fenster erspähte er unten am Strand einen Mann mit weißem Hemd und schwarzer Hose, der auf einem Felsen saß und in den Sand kritzelte, während er auf den Anruf seines Herrn und Meisters wartete.
    Niemand hatte diesen Job so lange ausgeübt wie dieser Mann, ohne seiner Furcht oder seiner Gier zum Opfer zu fallen. Dieser Mann war etwas Besonderes. Ein reinrassiger Dobermann.
    Er rief Giri auf dessen Handy an.
    «Ich gehe um 17 Uhr zum Siddhi-Vinayak-Tempel und dann zu meiner Genossenschaft in Vakola. Sag dem Jungen, er soll zum Tempel kommen. Pünktlich.»
    Rosie lag auf ihrer rechten Seite und hatte das Gesicht in den Armen verborgen. Er legte sich neben sie und schaltete mit einem Klatschen das Licht im Zimmer ein. Er klatschte noch einmal – es ging aus – und noch einmal –, bis Rosie ihm einen Klapsauf die Schulter gab und sagte: «Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen.»
    Shanmugham, der immer noch auf dem Felsen saß, hatte einen Stein aufgehoben und warf ihn immer und immer wieder in den heißen Sand.
    Er war reingelegt worden.
Reingelegt.
    Von seinem eigenen Bankdirektor.
    Er erinnerte sich genau an die Worte des schmierigen alten Mannes mit den weißen Haaren – da er ein so geschätzter Kunde sei, würde er etwas mehr als den üblichen Zinssatz bekommen («den besten Zinssatz, den man in dieser Stadt kriegen kann, das verspreche ich Ihnen»); und nun hatte er entdeckt, dass ein
Strandsonnenschirm
für einen höheren Zinssatz warb.
    Shanmugham warf den Stein weg, stand vom Felsen auf und klopfte sich den Sand von der Hose.
    Nach einem Mittagessen in einem pandschabischen
dhaba,
wo er sich die Hände mit Wasser aus einem Plastikkrug hatte waschen müssen, beobachtete er junge Frauen, die in einem Fitnessstudio namens «Barbar» auf dem Laufband rannten, trank um 14 Uhr am Straßenrand frisches Kokoswasser und aß um 15 Uhr in einem Lokal von einem Porzellanteller ein Pistazieneis.
    Er zerteilte das Eis in sechzehn Teile und aß sie langsam nacheinander, um seinen Aufenthalt im Lokal zu verlängern. Beim vierzehnten Eisstück war er sich sicher, dass der Mann mittleren Alters in Shorts dieser Schauspieler war, der vor zehn Jahren berühmt gewesen war. Amrish Puri.
    Nicht Amrish. Er bestrafte ein Stück Eis, indem er es mit dem Löffel zerdrückte. Om Puri.
    Beim fünfzehnten Stück Pistazieneis dachte er:
Ich esse Eis in einem Restaurant, in das ein Filmschauspieler reinspaziert, um genau das Gleiche zu tun.
    Er hätte sich nicht träumen lassen, dass so etwas möglich war,bis zu diesem Tag vor sechs Jahren, als er in seinem schmuddeligen Maklerbüro in Chembur mitbekam, dass ein Bauherr nach einem Subunternehmer vor Ort suchte. Sie hatten sich in einem nahe gelegenen südindischen Restaurant getroffen. Mr Shah hatte Tee auf seine Untertasse gegossen.
    «Eine einfache Frage.» Der fette Mann hatte ihm zwei goldberingte Finger gezeigt. «Zwei Zimmer. Eines ist vier auf fünf, eines zehn auf zwei. Beide sind zwanzig Quadratmeter groß. Richtig?»
    «Ja, Sir», sagte Shanmugham.
    «Also sind die Baukosten für beide gleich. Richtig?»
    «Nein, Sir.»
    «Erklären Sie mir das.» Mr Shah schlürfte Tee aus der Untertasse. «Das Zimmer zehn auf zwei ist 33 Prozent teurer, Sir. Vier plus fünf ist neun, neun und neun sind achtzehn Meter Wand, die errichtet werden müssen. Zehn plus zwei ist zwölf, zwölf und zwölf sind vierundzwanzig Meter Wand, die errichtet werden müssen. Es geht nicht um den Boden, es geht um die Wände.»
    «Sie sind der erste Mann heute, der die richtige Antwort weiß. Ich habe den Subunternehmer gefeuert, der mir die Arbeiter besorgt. Wissen Sie, wie Sie mir Bauarbeiter besorgen können?»
    «Nein, aber bis heute Abend weiß ich es», hatte Shanmugham gesagt.
    Sechs Monate später hatte Shah zu ihm auf einer Baustelle gesagt: «Vor ein paar Tagen hast du einen Streit zwischen Arbeitern beendet. Ich habe dich dabei beobachtet. Du weißt, wie man zuschlägt.»
    «Tut mir leid, Sir.» Shanmugham hatte zu Boden gesehen. «Ich werde es nicht wieder tun.»
    «Sag
nicht,
dass es dir leidtut», hatte Shah gesagt, «wir sind hier nicht in der Politik, sondern im Baugewerbe. In diesem Gewerbe muss man

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