Letzter Mann im Turm - Roman
die Wahrheit sagen, sonst wird nie etwas fertig. Weißt du, was eine linke Hand ist?»
Shanmugham hatte es nicht gewusst.
«Macht nichts. Du hast eine rasche Auffassungsgabe», hatte Shah gesagt. «Ab Montag kannst du meine linke Hand sein. Aber heute muss ich dich entlassen, und du musst deine Visitenkarten zerreißen. Wenn wir es jemals mit der Polizei zu tun bekommen sollten, werde ich sagen müssen, dass ich dich entlassen habe.»
Shanmugham schob sein Eis beiseite, zog ein kleines schwarzes Notizbuch aus der Tasche und fand eine leere Seite. Er zeichnete eine Tabelle mit sieben Spalten und zwanzig Zeilen und fertigte einen kleinen Kalender an. Das letzte Datum war der 3. Oktober. Daneben schrieb er: «Shanghai.»
Er blätterte das Buch durch. Die ersten Seiten waren mit Mr Shahs weisen Aussprüchen gefüllt, die er sich monatelang notiert hatte.
Wenn es um die Arbeit geht – Geschwindigkeit ist keine Hexerei. Wenn es ums Bezahlen geht – Gut Ding will Weile haben.
Kaste, Religion, Familienhintergrund bedeuten nichts, Talent alles.
Sei den Leuten gegenüber 10 Prozent großzügiger, als dir zumute ist.
Er drückte die Mine eines schwarzen Kugelschreibers heraus und fügte einen eigenen Ausspruch hinzu:
Vertraue keiner Bank …
Als das sechzehnte Eisstück geschmolzen war, zahlte er die Rechnung, warf einen letzten Blick auf den Schauspieler und ging.
Im Schatten eines kleinen Parks hielt er an.
Ein schwarzer herrenloser Hund trottete am Park vorbei, hellrot schimmerte nacktes Fleisch auf seiner linken Hinterbacke. Shanmugham dachte an einen Bankdirektor mit grauem geöltem Haar. An «ein bisschen mehr». Mit zugekniffenem Auge zielte er mit einem spitzen Stein auf die offene Wunde.
Sein Handy piepste.
Um 16 Uhr streckte Mrs Pinto ihren linken Arm suchend nach einer Wand aus. Ihr
chappal
fand die erste Treppenstufe.
Als ihr Augenlicht vor über einem Jahrzehnt allmählich schwächer geworden war, hatte Mrs Pinto begonnen, ihre Schritte peinlich genau zu zählen (war sogar zurückgegangen, wenn sie sich verzählt hatte), aber das war nun nicht mehr nötig.
Die Wände waren ihre Augen geworden. Den Wänden waren für sie Sehknospen gewachsen.
Sie wusste, dass sie drei Stufen hinabgestiegen war, wenn sie den «Diamanten» erreicht hatte, einen rhombenförmigen Riss in der vierten Treppenstufe. Sieben Stufen und zwei Absätze später kam der «kaputte Zahn». Ihre Handfläche glitt über die Wand und stieß auf eine Erhebung im Verputz, die sich wie einer ihrer Backenzähne anfühlte, wenn er ein Loch hatte. Das bedeutete, dass sie beinahe den zweiten Stock erreicht hatte.
Sie nahm eine schwache Helligkeit wahr; die Abendsonne fiel in den Eingangsbereich.
«Ist hier jemand?», rief sie. «Seid vorsichtig, wenn ihr es eilig habt, Shelley Pinto kommt runter, Stufe für Stufe kommt sie näher.»
Nur noch fünf Stufen bis zum Erdgeschoss; schwach hörte sie vom Plastikstuhlparlament her die Stimme ihres Mannes.
«… wenn ein Bewohner ‹Nein› sagt, können sie die Wohnungsgenossenschaft nicht abreißen. Das ist doch die Idee einer Wohnungsgenossenschaft. Einer für alle, alle für einen.»
Ich wünschte, er hätte etwas Intelligenteres gesagt,
dachte sie.
Gestern Abend, als er mit Masterji die Treppe heraufgekommen war und ihr von dem Zettel am Schwarzen Brett erzählt hatte, war ihr nach Weinen zumute gewesen. Die Pläne für ihren Lebensabend waren alle mit der Vishram Society verknüpft. Wozu brauchten sie Geld? Ein Festgeldkonto bei der Versova-Filiale der HDFC-Bank brachte ihnen monatlich 9 000 Rupien; beide Kinder hatten sich in Amerika niedergelassen – ein gutes, christlichesLand –, eines in Michigan, das andere in Buffalo. Die Kinder waren weit weg, aber um sie herum war Vishram, warm, menschlich, vertraut. Vishram war die Hornhaut, die sie vor den Härten des Alltags schützte. Diese Vertrautheit führte Shelley die Treppe hinab und durch den duftenden Garten. Wie sollte sie sich in einem fremden Gebäude zurechtfinden? Mr Pinto und seine Frau hatten Hand in Hand auf dem Sofa gesessen, hatten sich so verliebt gefühlt, wie schon seit Jahren nicht mehr. Und als Masterji gesagt hatte: «Wenn Sie Nein sagen, dann sage ich auch Nein», fing Shelley Pinto an zu weinen. Ein Ehemann an ihrer Seite und ein weiser Mann zum Freund.
Den ganzen Tag über, ob sie mit Masterji frühstückte oder im Bett lag, hatte sie in Vishram das Summen der Diskussion gehört. Was, wenn die anderen sie
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