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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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hätte sicher jemand die Notbremse gezogen, sicher hätte
irgendjemand

    Drei Monate lang konnte er nicht mit dem Zug fahren. Er nutzte verschiedene Buslinien, wenn es keinen Bus gab, ging er zu Fuß. Aber irgendwann musste er seinen Widerwillen überwinden. Aus schierer Notwendigkeit. Den Anblick eines Frauenabteils konnte er jedoch nie wieder ertragen.
Wer hatte behauptet, die Welt sei eine bessere, wenn sie von Frauen regiert würde? Zumindest waren Männer ehrlich in ihrer Selbsteinschätzung,
dachte er.
    Er blätterte um.
    Sie hatte den Hibiskus gemalt, der hinten auf dem Grundstück wuchs, und die kleinen Spinnweben zwischen den Blättern, glänzend, oval und einander überlappend wie parallele Milchstraßen. Früher hatten sich Vater und Tochter im Garten oft die Spinnweben angesehen und über die Unterschiede zwischen Menschen und Spinnen geredet. Er konnte sich an einen Unterschied erinnern,auf den sie sich geeinigt hatten. Das Denken der Spinne spielt sich außerhalb ihres Körpers ab; jeder neue Gedanke wird umgehend zu einem Seidenfaden. Das Denken des Menschen spielt sich in seinem Innern ab. Man weiß nie, woran er denkt. Noch ein Unterschied: Eine Spinne kann ohne Familie leben, ganz allein, in dem Netz, das sie spinnt.
    Unten erklang flüchtiger Applaus, der Bauherr musste eingetroffen sein.
    Mr Pinto hält einen Stuhl für mich frei, dachte er. Mit Sandhyas Skizzenbuch in der Hand stand er am Fenster.
    Zwischen den beiden Verwaltern stand ein fetter Mann mit goldener Halskette am schwarzen Kreuz.
    «… für mich gehören Sie jetzt zur Familie. Und der Beweis dafür ist das Motto des Confidence-Konzerns: Von meiner Familie für …»
    Der arme Mr Pinto hatte es aufgegeben, den freien Platz zu verteidigen. Jemand von Turm B hatte sich daraufgesetzt.
    Er stand am Fenster und blätterte im Skizzenbuch vor und zurück. Papageien, Kirchen, Menschen, die Wäsche wuschen, Sandhyas Schulkleid, ihr Gesicht, ihr gebürstetes und eingeschäumtes Haar, als bestünde es aus Pünktchen sonnenbeschienenen Wassers, tanzten um ihn herum. Hin und wieder hörte er die Stimmen von der Versammlung auf jene beiläufige Weise, wie ein in seinem Büro arbeitender Mann den einen oder anderen Fetzen der Kricketkommentare seiner Kollegen mitbekommt.
    «… ich spreche hier für alle, Mr Shah, wenn ich Sie frage: Meinen Sie es ernst mit diesem Angebot? Werden Sie ihm in allen Einzelheiten nachkommen?»
    «… es ist üblich, dass der Bauherr den Bewohnern eines bestehenden Genossenschaftshauses Wohneinheiten im neuen Gebäude anbietet. Warum sind Sie nicht …»
    «Warum bekommen die Bewohner von Turm B, der neuer und in jeder Hinsicht in besserem Zustand ist, keinen höheren Preis pro Quadratmeter als …»
    Er schlug die letzte Seite auf. Dort hatte sie mit Bleistift geschrieben:
Je tien. Vous tenez. Il tient. Vous Tenez. Nous
… Sie übte Französisch; er brachte es ihr an zwei Abenden die Woche zu Hause bei. Masterji kratzte mit dem Finger an dem
tien
herum und suchte nach einem Rotstift. Er wollte nicht, dass seine Tochter bis in alle Ewigkeit falsches Französisch sprach.
    Eine durchdringende Stimme – das Schlachtschiff – trieb ihn zurück ans Fenster. «Wir wollen Ihr Geld nicht, seien es nun 200 oder 250 Prozent. Dieses Haus ist unser Zuhause, und niemand kann von uns verlangen, hier auszuziehen.»
    Unten war es still geworden. Das Schlachtschiff und ihre beiden Kinder waren aufgestanden.
    «Bei unserem Herrn Jesus Christus, ich werde Sie bekämpfen. Ich kenne euch Bauherren, und ihr seid alle bloß Lügner und Kriminelle. Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Und zwar sofort.»
    Es war eine Sache, das Angebot auszuschlagen, aber weshalb dieser persönliche Angriff? Kannte sie diesen Mr Shah und nannte ihn deshalb einen Lügner? Und dann auch noch so lautstark. Er schloss das Fenster.
    Er sah den Zauberwürfel auf dem Teakholztisch liegen. Er war alterssteif, und es war mühsam, die Achsen zu bewegen, als stemmte er einem kleinen Tier den Kiefer auf.
    Eine halbe Stunde später, als Mr Pinto durch die geöffnete Tür marschierte, fand er Masterji schlafend am Tisch vor, das Skizzenbuch seiner Tochter lag auf dem Boden und die Seiten flatterten im Luftzug.
    Er schloss die Tür und ging zu 2 A zurück; seine Frau lag im Bett.
    «Eingeschlafen, Shelley. Auf seinem Stuhl. Und ich habe so darum gekämpft, ihm einen Platz frei zu halten.»
    «Mr Pinto. Sei nicht so kleinlich. Als wir Nein zu dem Angebot gesagt haben,

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