Letzter Mann im Turm - Roman
und Urkundenmit Goldlettern, die von seiner drei Jahrzehnte währenden Tätigkeit zeugten; die Fotografie seiner Abschiedsfeier von St. Catherine’s mit den Unterschriften von zwei Dutzend ehemaligen Schülern und das kleine gerahmte Foto daneben, das eine blasse Frau mit ovalem Gesicht in einem blauen Sari zeigte.
«Meine verstorbene Frau.»
Die junge Frau trat vor die Fotografie. Sie trug eine Spange, und das Stahlgestell ihrer dunklen Brille nahm sich wie ein Echo des Metalls auf ihren Zähnen aus. Das Gestell hatte eine sechseckige Form. Masterji zählte die Ecken ein zweites Mal. Eine unvorteilhafte Form, wie hatte sie jemals in Mode sein können?
Sie las das Datum unter der Fotografie und sagte: «Das tut mir leid.»
«Es ist beinahe ein Jahr her. Ich habe mich daran gewöhnt. Sie hätte Sie gemocht, Ms Meenakshi. Meine Tochter wäre jetzt in Ihrem Alter. Sie
heißen
doch Meenakshi, oder?»
Sie nickte.
«Wo lebt Ihre Tochter heute? In Mumbai?», fragte sie.
«Sie ist viele Jahre vor ihrer Mutter gestorben.»
«Ich sage wohl immer das Falsche.»
«Machen Sie sich keine Sorgen, Ms Meenakshi. Wenn Sie den Leuten keine Fragen stellen, erfahren Sie nichts von ihnen», sagte Masterji. «Hier, das ist ihr Skizzenbuch. Ich habe es gestern erst im Schrank gefunden.»
Er wischte den Staub von der Kladde – SANDHYA MURTHY ZEICHNUNGEN & SKIZZEN – und blätterte für sie die Seiten um.
«Das ist unsere Kirche, oder?»
«Ja, St. Anthony. Und diese Zeichnung zeigt das Dhobi Ghat, sehen Sie die Leute, die sich waschen? Nein, nicht das berühmte Ghat in Mahalakshmi. Das Ghat hier bei uns. Und
das
ist doch eine hübsche Zeichnung. Der Papagei. Die beste Zeichnung, die meine Tochter je gemacht hat. Sie ist neunzehn Jahre alt geworden. Nur neunzehn Jahre.»
An Ms Meenakshis Augen konnte er ablesen, dass sie wissen wollte, wie das Leben dieser Künstlerin geendet hatte. Er klappte das Skizzenbuch zu.
«Aber ich möchte Sie nicht langweilen, Ms Meenakshi. Ich wollte mich nur entschuldigen, das war alles. Wenn Männer alt werden, werden Sie, im Gegensatz zu dem, was Sie vielleicht gehört haben, nicht unbedingt weiser. Wollen Sie nach unten gehen, um Mr Shah anzuhören?»
Sie hob die Augenbrauen.
«Sie gehen
nicht?
Sie bekommen jede Menge Geld von ihm.»
«Er sagt, dass wir jede Menge Geld von ihm bekommen. Sie müssten sich doch mit Bauunternehmern auskennen. Sie sind doch Journalistin.»
«Nein, ich mache Öffentlichkeitsarbeit.»
«Was heißt das genau? Alle jungen Leute wollen heute Öffentlichkeitsarbeit machen.»
«Ich erkläre es Ihnen ein anderes Mal.»
Er dankte ihr, dass sie so liebenswürdig gewesen war, seine Entschuldigung anzunehmen, lud sie für ein anderes Mal zum Ingwertee ein und schloss die Tür.
Unten auf dem Grundstück wurde es lauter. Die Stimme des Verwalters schallte aus dem Mikrofon. «Können Sie mich alle hören? Test, Test. Können Sie mich …»
Masterji setzte sich. Warum
sollte
er hinuntergehen? Bloß weil irgendein reicher Mann kam? Er hasste diese offiziellen Zusammenkünfte der Genossenschaft. Bei jeder Jahresversammlung war er vom Gezänk seiner Nachbarn, den kleinlichen Anschuldigungen, peinlich berührt. «Ihr Sohn pinkelt an die Grundstücksmauer»; «ich wache morgens vom Gurgeln Ihres Mannes auf.»
An diesem Abend erwartete er das nächste Blutbad; Mrs Rego und Mrs Puri, die einander wie Fischweiber ankeiften.
Er legte die Füße auf den Teakholztisch, blätterte Sandhyas Skizzenbuch durch, bis er zur Papageienzeichnung kam. DieSkizze war unvollendet, vielleicht hatte sie daran gearbeitet, als sie … Er legte die Finger auf die Ränder der Zeichnung, die sich anfühlten, als würden sie noch wachsen. Als würde sie noch daran arbeiten.
Wo lebt Ihre Tochter heute?
Dort, wo sie sich seit elf Jahren befindet.
Sie war auf dem Weg zum College gewesen, als sie jemand aus dem Zug gestoßen hatte. Ein proppenvolles Erste-Klasse-Abteil für Frauen am Morgen – jemand hatte sie hinausgeschubst. Sie war kopfüber auf die Gleise gestürzt und dort liegen geblieben. Keiner der anderen Fahrgäste hatte den Zug angehalten. Sie wollten alle nicht zu spät zur Arbeit kommen. Alles Frauen, anständige Frauen. Sekretärinnen. Bankangestellte. Verkäuferinnen. Sie war verblutet.
Das Kind, das er gezeugt hatte, war auf den Gleisen gestorben. Ihr Gehirn sickerte aus dem verletzten Schädel, weil die anderen Fahrgäste nicht zu spät zur Arbeit kommen wollten. Im Männerabteil
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