Letzter Mann im Turm - Roman
rautenförmiges, karamellisiertes Cashewgebäck. An jeder Schachtel war ein handgeschriebener Brief befestigt. Mit Unterschrift.
«Von meiner Familie für Ihre Familie. Dharmen Shah, Geschäftsführer, Confidence-Konzern.»
«Ich habe Ihre Schachtel Ihrer Frau gegeben», sagte Ram Khare.
Ajwani deutete auf den Stapel Schachteln neben dem Wachmann. «Warum liegen da vier Schachteln?»
«Vier Leute haben gesagt, sie wollen die Süßigkeiten nicht», sagte der Wachmann. «Ist das zu glauben?»
Ajwani spähte zu den Schachteln hinüber. «Welche vier?»
Ein sonniges Lächeln auf Ibrahim Kudwas bärtigem Gesicht war garantiert, wenn einer seiner Nachbarn an dem Durcheinander aus Kabeln, Vegetation, Ziegeln, Dachpappe und abblätternderFarbe vorbeiging, das den Namen SPEED-TEK INTERNETCAFÉ trug. Der Stamm eines Banyanbaums neben dem Café war weiß gestrichen worden, um Schnee vorzutäuschen. Kudwas langjähriger Gehilfe, Arjun, war offensichtlich vor einigen Jahren zum Christentum übergetreten; letztes Jahr hatte er den Baum für seine Religion gewonnen und an dessen Fuß seine private Krippe samt Tonfiguren inmitten prächtigen Baumwollschnees aufgebaut. Ein weiteres Indiz für Weihnachten war der große fünfzackige, von Wimpeln umgebene Stern, den Arjun auf dem Dach des Cafés befestigt hatte; Monate später hing er immer noch dort, überraschend, riesig, die Wimpel ausgefranst, und wenn das Morgenlicht hinter ihm aufstieg, glich er einem Symbol des Weltuntergangs. Als zöge es ihn zu dem geheimnisvollen Stern, saß manchmal ein Sadhu vor dem Café. Mr Kudwa hatte nichts dagegen, im Gegenteil, er hatte den Mann gelegentlich sogar mit einem Zweirupienstück dazu ermuntert.
Als fähiger Mensch hatte Ibrahim Kudwa, zuvor Leadsänger einer Rock’n’Roll-Band an der Universität, nach seinem Studium beschlossen, nicht in dem Haus in Ost-Bandra zu bleiben, in dem seine Brüder und Schwestern immer noch lebten und das ein rein muslimisches Haus war. Vishram mochte ein altes Gemäuer sein, aber er wollte, dass seine Kinder mit Hindus und Christen zusammenkamen. Nach der Lektüre eines Zeitschriftenartikels hatte er beschlossen, dass die Zukunft der Technik gehörte. Er lehnte das Angebot seines Bruders ab, im familieneigenen Eisenwarenladen in Kalanagar zu arbeiten, und eröffnete das erste Internetcafé im Viertel. Leicht verdientes Geld. Seine Preise stiegen von zehn Rupien pro Stunde auf fünfzehn, auf zwanzig, sanken dann wieder auf fünfzehn und dann weiter auf zehn. Eine heimtückische Sache, diese Technik. Sechs Monate später war eine Internetverbindung so billig geworden, dass nur noch die Ärmsten der Armen und die Touristen ein Internetcafé brauchten. Die Preise für Eisenwaren blieben stabil, sein Bruder hatte sich erst vor Kurzemeine zweite Dreizimmerwohnung als Kapitalanlage gekauft. Dann beschloss die Regierung, dass jeder, der ein Internetcafé aufsuchte, ein potenzieller Terrorist war.
Name, Telefonnummer, Adresse, Führerschein oder Passnummer – der Besitzer des Internetcafés war rechtlich verpflichtet, detaillierte Aufzeichnungen über jeden Kunden zu führen, und der Polizei kam jede Ausrede recht, sich auf Kudwas Bücher zu stürzen und ein Schmiergeld einzukassieren.
Dennoch würde keiner seiner Nachbarn behaupten, er sei ein unglücklicher Mann. Er war ein Bär, der überall Honig fand. Er verschwendete seine beträchtliche Freizeit an seine beiden fröhlichen Kinder, den zehnjährigen Mohammad, der stoisch seine Taekwondo-Niederlagen gegen die kleinen Ajwanis hinnahm, und die zweijährige Mariam, die im Nachthemdchen durch das Internetcafé ihres Vaters wackelte, sich unaufgefordert den Kunden auf den Schoß setzte und mit Freuden auf die alten Tastaturen einhieb. Mumtaz, seine Frau, sammelte Rabattmarken und Kreditkartenpunkte, damit sie jeden Sommer die Ferien in Mahabaleshwar verbringen konnten. Letztes Jahr hatten sie im August, von Punkten subventioniert, sogar das Wunder eines Familienurlaubs in Ladakh vollbracht, wo sie tibetische Klöster besuchten und mit Gebetsperlen und T-Shirts für ihre Hindu-Nachbarn zurückkehrten.
«Warum bist du in der Oppositionspartei, Ibrahim?» Ajwani hatte sich soeben im Besucherstuhl des Internetcafés niedergelassen.
«Oppositionspartei?», fragte Kudwa. Klein-Mariam saß auf seinem Schoß, und er streichelte ihr übers Haar.
«Du hast Nein zum Angebot gesagt. Warum?»
Kudwa starrte ihn an. «Wer hat dir gesagt, dass ich Nein gesagt
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