Letzter Mann im Turm - Roman
schloss die Augen.
Plötzlich drehte sich Mrs Puri um und schrie: «Mary! Mach nicht so viel Lärm mit dem Müll. Ich habe hier einen halbwüchsigen Sohn!»
Wie jeden Tag zerrte Mary eine schimmelige blaue Tonne von Stockwerk zu Stockwerk der Vishram Society, kippte den Inhalt der Abfalleimer, die vor jeder Tür standen, hinein und wischte die Schweinerei auf, die von der Morgenkatze auf der Suche nach Futter angerichtet worden war.
Die Bewohner von Vishram neigten nicht dazu, Dienstboten leichtfertig zu loben, aber Mary besaß ihr Vertrauen. Sie war so ehrlich, dass selbst ein auf den Boden gefallenes Einrupienstück wieder auf den Tisch gelegt wurde. In sieben Jahren nicht eine einzige Klage wegen Diebstahls. Zwar waren die Geländer und Stufen immer dreckig, aber das Gebäude war eben auch alt. Es verfiel zusehends. Warum Mary die Schuld geben?
Ihr Leben war schwer. Sie hatte ein Paar muskulöser Arme geheiratet, das immer mal wieder in ihr Leben trat, blaue Flecken und ein Kind zurückließ; ihren Vater fand man hin und wieder stockbetrunken unter den Gemüseständen im Markt.
Sie war fertig mit 5 C, der letzten Wohnung im obersten Stock, und wälzte die blaue Tonne die Stufen hinunter; das Treppenhaus füllte sich mit Donnergetöse. («Mary! Hörst du nicht? Hör sofort mit dem Krach auf, Mary!») Während die Adern auf ihren Unterarmen wie Seile hervortraten, als wäre die Tonne an sie gekettet, rollte sie diese aus dem Haus, zum Tor hinaus und über die Straße zu einer Abfallgrube.
Der Regen hatte die Grube in ein Sumpfgebiet verwandelt; Zellophan, Eierschalen, ein Politikergesicht, Aktienkurse, Bananenblätter, Hühnerfüße und die grünen Ananaskronen. LoseKassettenbänder lagen über allem wie geschmolzenes Karamell.
Mary warf Plastiktüten aus ihrer blauen Tonne in das Sumpfgebiet und sah aus dem Augenwinkel einen Mann auf sich zukommen. Sie roch Babypuder von Johnson & Johnson. Sie machte einen Schritt auf den Abfallhaufen zu, denn diesen Geruch zog sie vor.
«Mary.»
Grunzend nahm sie Ajwani zur Kenntnis. Sie mochte es nicht, wie er sie ansah; seine Blicke taxierten die Frauen und versahen sie mit einem Preisschild.
«Was war heute Morgen in Mrs Puris Müll?»
«Keine Ahnung.»
«Suchst du ihn für mich raus?», fragte er lächelnd.
Sie watete in den Müll und zog eine Plastiktüte heraus, die sie Ajwani vor die Füße warf. Er drehte sie mit seinem Schuh um.
«Weißt du noch, dass Mrs Puri gestern sagte, sie würde Ramu mit zum Tempel nehmen? Sitla Devi in Mahim, sagte sie, als ich sie fragte. Also, wenn Hindus zum Tempel gehen, bringen sie etwas mit nach Hause – Blumen, Kokosnussschalen, Kumkumpu-Puder –, und davon ist in ihrem Müll nichts zu sehen. Was sagt dir das?»
Mary hatte die blaue Tonne geleert und kratzte nun das Innere mit der Hand aus. Drei dunkle Schweine schnüffelten am Unrat, ein viertes stand mit geschlossenen Augen im Schlick wie ein frommes, meditierendes Wesen.
«Keine Ahnung.»
«Vor seinem Mülleimer hat der Mensch keine Geheimnisse, Mary. Ich will, dass du von jetzt an jeden Morgen drei Müllsäcke durchsuchst. Den von Masterji, den von Mr Pinto und den von Mrs Rego.»
«Das gehört nicht zu meiner Arbeit», sagte sie. «Das macht die Morgenkatze.»
«Dann werde zur Katze, Mary.»
Lächelnd hielt ihr Ajwani einen Zehnrupienschein hin. Sie schüttelte den Kopf.
«Nimm den Schein, nimm ihn», sagte er.
«Und das ist auch für dich.» Ajwani hielt ihr eine rote Schachtel mit dem Bildnis Siddhi Vinayaks hin. «Für deinen Sohn.»
Mary betrachtete die rote Schachtel, auf dem Karton waren große Fettflecke zu sehen.
Zwei Frauen, die den Müll nach Brauchbarem durchwühlten, hatten gewartet, bis Mary den Inhalt der blauen Tonne ausgeschüttet hatte; eine von ihnen hielt einen Scheibenwischer in der Hand. Nun wateten sie barfuß durch den nassen Müll, alte Jutesäcke über den Schultern, und durchsuchten mit dem Scheibenwischer den Abfall. Mrs Puris Tüte ließen sie in Ruhe. Sie suchten nicht nach Informationen, nur nach Plastik und Blech.
Zurück in Vishram versteckte Mary die Schachtel mit den Süßigkeiten in der Dienstbotennische, dann fegte sie den Gemeinschaftsbereich, das Treppenhaus und das Grundstück.
Eine halbe Stunde später, mit der Süßigkeitenschachtel in der Hand, kaufte sie auf dem Markt Gemüse ein. Etwas Frisches für ihren Sohn. Rote Bete. Gut für das Kinderhirn, sagte Mrs Puri, die dieses Gemüse ständig für ihren Sohn
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