Letzter Mann im Turm - Roman
schüttelte. «Glückwunsch, Glückwunsch», sagte er.
«Trivedi, Purnimas erster Todestag, steht bevor. Der 5. Oktober. Es ist noch fünf Monate hin, aber ich wollte sichergehen, dass Sie den Termin in Ihrem Kalender eintragen. Ist ein sehr wichtiger Tag für mich, Trivedi.»
Der Priester ließ Masterjis Hand los und starrte ihn mit offenem Mund an.
«Masterji, als Ihre Tochter starb, wer hat den Ritus durchgeführt?»
«Sie, Trivedi.»
«Als Ihre Frau starb, wer hat das Abschiedsritual durchgeführt?»
«Sie, Trivedi.»
«Und als mein Sohn Nachhilfe in Naturwissenschaften brauchte, wer unterrichtete ihn da?»
«Ich, Trivedi.»
«Was soll also dieses Gerede von Terminen, die vergessen werden könnten, Masterji? Es wird mir eine
Ehre
sein, für Ihre verstorbene Frau das Samskara zum ersten Todestag durchzuführen. Machen Sie sich keine Sorgen.»
Trivedi bot Masterji an, ihm eine Kokosnuss als Erfrischung gegen die Hitze zu kaufen. Masterji kannte den Priester als knausrigen, ja skrupellosen Mann – es gab immer Unstimmigkeiten wegen seiner Rechnungen für die Zeremonien –, und er gab diesem Angebot schließlich nach, weil es etwas absolut Neues war. Trivedi schob seinen Roller, und sie gingen zum Kokosnussmann, der mit einem schwarzen Messer und einem großen Weidenkorb, der von Kokosnüssen ächzte, in der Nähe des Eingangs der St. Catherine’s School saß.
Während der Kokosnussmann auf die grünen Früchte klopfte, um ihren Reifegrad zu prüfen, beobachtete Masterji Trivedis Gesicht. Zwischen Geburten, Hochzeiten und Todesfällen erteilte der Priester zahlenden Schülern Unterricht in der korrekten Rezitation von Sanskritversen. Der gut eingeölte Schnurrbart auf seiner Oberlippe war selbst eine hübsche Gedichtzeile – geschmeidig und symmetrisch, von kräftigem Schwarz mit einem Hauch von Grau an den Enden und in der Mitte von einer perfekten Zäsur geteilt. Trivedi zwirbelte die Enden und lächelte, aber die Wahrheit tropfte ihm aus Augen und Nase.
Der Priester war den Tränen nahe.
Verging vor Neid,
dachte Masterji. Ihm kam es mittlerweile so vor, dass in der Bewunderung, die alle jahrelang für ein altes zerfallenes Gebäude gehegt hatten, ein Gutteil Herablassung mitgeschwungen hatte. Und nun waren sie auf einmal in echten Respekt vor seinen Bewohnern verfallen.
«Ich erzähle Ihnen die gute Neuigkeit, Trivedi», erbarmte er sich des Mannes.
Mit einem gekrümmten Messer hieb der Kokosnussmann ein Loch in eine der Nüsse.
Die Augen des Priesters wurden groß.
«Dieser Shah hat auch für Ihre Wohnung ein Angebot gemacht?»
«Nein. Die gute Neuigkeit für Sie besteht darin, dass es für uns keine gute Neuigkeit gibt. Die Pintos haben Nein gesagt. Shelley würde sich in einem anderen Gebäude nicht zurechtfinden.»
«200.000 Rupien pro Quadratmeter! Mit so viel Geld könnten sie ihr doch neue Augen kaufen.» Trivedi grinste. «Sie nehmen mich doch auf den Arm, Masterji!»
Der Markt füllte sich mit Lärm; eine Trauerprozession bewegte sich schwerfällig und geräuschvoll in Richtung Schnellstraße.
Der Kokosnussmann reichte jedem von ihnen eine aufgeschnitteneNuss, randvoll mit frischem Kokoswasser und von einem pinkfarbenen Trinkhalm durchbohrt.
Masterji wusste, dass er ablehnen sollte; diese Nuss war für einen Mann bestimmt, der Mr Shahs Geld annehmen würde.
«… natürlich machen Sie Witze, Masterji … Werden Sie wirklich Nein sagen? Wenn der Stichtag erst mal da ist, werden Sie dann wirklich …»
Er nahm die randvolle Kokosnuss in beide Hände und spürte ihr Gewicht.
Wenn man reich ist, muss man den Leuten nicht geben,
dachte er.
Man bekommt etwas von ihnen.
Wie wundervoll.
Das kühle süße Wasser, das er durch den Strohhalm saugte, gab ihm einen bitteren Kitzel; vier oder fünf Sekunden lang begriff er, wie es war, Millionär zu sein.
Kahl, verschwitzt und dunkel wie Schokolade schimmerte der Kopf des Trommlers im Morgenlicht, hinter ihm blies ein sich wiegender Mann auf einer Nadaswaram. Vier Teenager trugen die hölzerne Totenbahre, zwei weitere folgten ihr, Bronzebecken aneinanderschlagend. Auf der Bahre lag die in einen leuchtend grünen Sari gewickelte Leiche einer alten Frau, die Nasenlöcher mit Wattebäuschen ausgestopft. Alle paar Schritte verfiel der die Prozession anführende Junge in einen Freudentanz.
Ajwani, der Makler, stand mit verschränkten Armen auf dem Markt und beobachtete den ganz in der Nähe stehenden Shanmugham, der seinerseits mit
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