Letzter Mann im Turm - Roman
Jungen gehen nicht in die Schule, Madam. Manche von ihnen sind beinahe zwanzig Jahre alt. Darf Ihr Sohn etwa mit ihnen spielen?»
Mrs Rego, die drauf und dran war, Mary in ihre Schranken zu weisen, zügelte sich.
«Ich bin hier diejenige, die euch belehrt. Ich bin es nicht gewohnt, mich von Leuten, die am
nala
leben, selbst belehren zu lassen. Aber lass uns nicht streiten. Für uns beide gab es heute gute Neuigkeiten.»
Sie befand sich auf dem Heimweg, nachdem sie einen Anwalt in Shivaji Park aufgesucht hatte, der sich auf Genossenschaftshäuser und die entsprechenden Streitigkeiten spezialisiert hatte. Es sei nicht so, dass jedes Genossenschaftsmitglied zustimmen müsse, damit das Haus abgerissen werden könne, hatte er ihr gesagt. Eine Dreiviertelmehrheit könne, rechtlich gesehen, ausreichend sein. Aber die Rechtslage sei in diesem Fall nicht eindeutig. Wie in den meisten Fällen, fügte der Rechtsanwalt hinzu. Das Recht in Mumbai sei nicht blind, weit gefehlt, es habe zwei Gesichter und vier sehfähige Augen und betrachte jeden Fall von beiden Seiten und könne sich nie entscheiden. Aber eine zweideutige, doppelsinnige und doppelbödige Gesetzeslage hätte durchaus auch ihre Vorteile. Der vorliegende Fall – das Recht des Einzelnen gegen das Wohl einer Gemeinschaft – sei so kompliziert, dass, ginge auch nur ein einziger Bewohner Vishrams vor Gericht, der Abriss jahrelang verschoben werden würde, während sich der Richter darüber den Kopf zerbreche und in der ein halbes Jahrhundert umfassenden Rechtsgeschichte voller widersprüchlicher Gerichtsentscheideein passendes Muster zu erkennen versuche. Mr Shah werde aufgeben und sein Glück woanders versuchen.
Mary kam mit einer Axt aus ihrer Hütte und begann, für das Abendessen Feuerholz zu hacken.
Mrs Rego war am
nala
ein paar Hütten weitergeschlendert.
«Wie oft habe ich dir gesagt», brüllte sie einen Mann mit einem weithin bekannten Alkoholproblem an, «dass du nicht einmal daran
denken
sollst, die Hand gegen deine Frau zu erheben?»
Mary dachte an ihren Timothy. Er sollte hier sein und lernen und nicht da draußen am tamilischen Tempel und mit diesen älteren ungehobelten Typen Kricket spielen. Bald würde er anfangen, sich ein Beispiel an ihnen zu nehmen.
Sie würde ihn wegen Missachtung ihrer Befehle vielleicht zu heftig schlagen; es war besser, die Wut am Feuerholz auszulassen. Sie holte aus und schlug zu.
«Ich habe dich und deine Mutter mal zu einem Straßenfest in Bandra mitgenommen, da warst du so groß. Du erinnerst dich bestimmt noch daran.»
Am anderen Ende der Stadt schlenderte Dharmen Shah mit seinem Sohn an bunten Ballons und fluoreszierenden Plastikreifen vorbei. Sie hatten in der Empfangshalle des Hilton eine unbehagliche Teestunde miteinander verbracht und beim Verlassen des Hotels feststellen müssen, dass Nariman Point wegen eines Straßenfestes für den Verkehr gesperrt war. Vanilleeiskugeln, in Tüten oder Bechern, schwebten schneeballgleich an ihnen vorbei; Pferde, die mit Silberfolie umwickelte schwanenförmige Wagen zogen, klapperten die breite Straße auf und ab.
«Wann bekomme ich meine Kreditkarte zurück?»
«Wenn mir danach ist. Hast du dich mit diesen Jungs von deiner Gang wieder getroffen?»
Satish blieb stehen. «Pferdescheiße. Überall», sagte er. Der Hintern seiner Jeans schleifte beinahe über die dreckige Straße,aber Shah nahm an, dass dies die herrschende Mode war, und riss sich zusammen.
«Ich hab dich nach dieser Gang gefragt, Satish. Triffst du …»
Der Junge hatte die Finger an die Nase gelegt. «Ich will nach Hause», sagte er. Sein Vater fragte ihn lediglich, ob er Geld für ein Taxi habe.
Shah rief Shanmugham an, der in Malabar Hill darauf wartete, ihm den abendlichen Rapport zu liefern.
«Komm rüber nach Nariman Point.»
Er stand hinter einer Schlange von Kindern, die rotes Wassereis kaufen wollten. Die Kinder musterten ihn und kicherten; er lächelte. Überall sah er Männer mit ihren Frauen und Kindern.
Ich bin dabei, meinen Sohn zu verlieren,
dachte er. Er wusste, dass Satish dem Taxifahrer nicht gesagt hatte, er solle nach Malabar Hill fahren, sondern sich direkt zu einem seiner Freunde bringen ließ.
Eine Traube gelber Luftballons stieg über dem Markt empor und schwebte in der Dunkelheit davon; Shah ging ihr nach.
Er ließ Licht und Lärm hinter sich und erreichte einen Parkplatz. Ein Metallzaun erhob sich an dessen Ende, dahinter floss dunkles Wasser. Auf der anderen Uferseite sah
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