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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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er die Lichter von Navy Nagar, dem nördlichen Stadtrand Mumbais.
    Shah presste sein Gesicht gegen die kalten Metallringe des Zauns. Er starrte auf die fernen Lichter und schaute dann auf den Boden.
    Der Zaun sollte das Ende festen Bodens markieren, aber eine Landzunge aus Abfall, Ziegelsteinen, Granit, Plastik und Pepsi Cola hatte sich daran vorbeigeschummelt; der unternehmungslustige Müll schob sich ein paar Meter ins Wasser. Shahs Finger pochten, als er auf das amphibische Land von Nariman Point, dem Geschäftsviertel, blickte. Wie doch diese Stadt nie zu wachsen aufhörte; wurden Bauschutt, Kot, Pflanzen, Mulch sich selbst überlassen, saugten sie das Meer auf, schoben sich dem anderenEnde der Bucht entgegen, zischten wie eine Schlangenzunge durch das Salzwasser:
Da isssst noch mehr Land, isssst noch mehr Land.
    Die Landzunge kam in Bewegung, Plastiktüten und Kiesel wogten, als huschten Mäuse unter ihnen hindurch, dann schoss ein Spatz aus dem Müll hervor.
Sie erwacht zum Leben,
dachte Shah. Wenn doch bloß Satish hier wäre. Auf diese Weise wurde ganz Bombay erschaffen, diese dem Wasser abgerungene Stadt, die aus Müll und Bodenaufschüttung entstand, um sich zu Höherem aufzuschwingen. Auf diese Weise, Satish, sind sie alle – Fische, Vögel, die Leoparden von Borival, sogar die Starlets und Supermodels aus Bandra – den schillernden Träumen von Mutter Müll entstiegen.
    Ein Obdachloser begann jetzt, durch den Unrat zu waten, er musste ein Loch im Zaun gefunden haben. Er hockte sich hin und spuckte aus. Seine Spucke leistet ihren Beitrag zur Landgewinnung, ebenso wie dies sein Kot bald tun würde. Shah schloss die Augen und richtete sein Gebet an den Unrat und an den Mann, der sich auf ihm erleichterte:
Lasst mich bauen. Dieses eine Mal noch.
    «Sir …» Er spürte eine Hand auf der Schulter. «Hier ist es schmutzig.»
    Shanmugham, in weißem Hemd und schwarzer Hose, stand hinter ihm.
    Sie kehrten zu Licht und Lärm zurück.
    «Was macht dieser Verwalter?», fragte Shah, während sie zum Straßenfest zurückgingen.
    Shanmugham hatte gerade die schlechten Neuigkeiten gehört; aus den vier Neins der Vishram Society waren zwar nur noch drei geworden, aber diese drei zeigten keinerlei Entgegenkommen. Und der Verwalter hatte am Telefon aufbegehrt,
er
könne nichts tun, um diese drei zur Unterschrift zu bewegen.
    «Ich weiß nicht, warum sie ihn zum Verwalter gemacht haben,Sir», sagte Shanmugham. «Er ist völlig ungeeignet. Aber da gibt es jemanden … einen Makler … der uns helfen könnte. Er will Geld.»
    «Geht in Ordnung. Zögern Sie nicht, noch einhundert- oder zweihunderttausend Rupien mehr auszugeben, falls nötig. Oder noch mehr, falls es absolut notwendig sein sollte. Bald ist der 3. Oktober.» Shah legte die Hand hinters Ohr. «Jeden Tag kann ich hören, wie er näher rückt. Hörst du das auch?»
    «Ja, Sir», sagte Shanmugham. «Ich kann es hören. Ich höre, wie der 3. Oktober näher rückt.»
    Der Bauherr blieb stehen und wandte den Kopf. Am Straßenrand war ein Stand errichtet worden, der Zuckerrohrsaft verkaufte, Teil des Straßenfestes. Sein Blick wanderte zum Dach des Standes, auf dem gut 1,50 Meter hoch das Zuckerrohr gestapelt war, die längsten Stängel bogen sich an den Enden hinunter wie die Zangen einer Krabbe.
    Die Maschine, die das Zuckerrohr auspresste, wurde von nackten Glühbirnen beleuchtet. In einem grellen flackernden Licht drehte ein Junge ein rotes Rad, das kleinere grüne Räder bewegte, die bimmelnd das Rohr zerquetschten, dessen Saft durch eine Rinne mit unterschiedlich großen Eisstücken und ein dreckiges Sieb in einen Stahlbehälter tröpfelte, der durch die kalte Flüssigkeit beschlug. In kleine konische Gläser gegossen, wurde der Saft den Kunden für je fünf Rupien verkauft, ein größeres Glas kostete sieben Rupien.
    «Als ich nach Bombay kam, habe ich mich von diesem Saft ernährt. Buchstäblich ernährt.»
    «Sir, sie nehmen schmutziges Wasser für das Eis. Gelbsucht, Durchfall, Würmer, Gott weiß was noch alles.»
    «Ich weiß, ich weiß.»
    Die hellen, schnellen, bimmelnden Räder drehten sich wieder, zerquetschten das Zuckerrohr; Shah stellte sich vor, wie solch eine melodische Energie Ziegelmauern emporwachsen ließ, Gerüsteerrichtete, Männer in die Luft hievte. Wenn er doch nur wieder neu in Bombay wäre, wenn er nur wieder dieses Zeug trinken könnte.
    Auf der Rückfahrt konnte er immer noch die Räder der Entsaftungsmaschine vor sich sehen, die

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