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Letzter Mann im Turm - Roman

Letzter Mann im Turm - Roman

Titel: Letzter Mann im Turm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Lebenswerk.»
    In einer Ecke des Wachhäuschens wuchs ein großes Spinnennetz; Khare schien nichts dagegen zu haben. Zweige, Kreide, Stiftkappen und Metalldrahtstückchen waren vom Boden bis zu anderthalb Meter hoch in dieses Netz transportiert worden; das Ganze sah aus wie ein Werk harmloser schwarzer Magie, dem sich Khare in seiner Freizeit widmete.
    «Das ist mein Lebenswerk, Sir. Mein Lebenswerk.»
    Ram Khares Finger ruhten auf einem anderen magischen Objekt, dem länglichen Besucherbuch mit seinem festen Einband.
    Er fuhr mit seinem sauberen Fingernagel die Spalten entlang.
    Name des Gastes
Beruf
Adresse
Handynummer
Besuchszweck
Besuch bei
Besuchsbeginn
Besuchsende
Bemerkungen (ggf.)
Unterschrift Gast
Unterschrift Wachmann
    «Jeder einzelne Gast wird erfasst und seine Handynummer registriert. Seit sechzehn Jahren wird das so gemacht.» Er deutete auf die alten Besucherbücher, die in Kunststoffwannen gestopft worden waren. «Wenn Sie mich etwa fragen, wer das Gebäude am Morgen des 1. Januar 1994 betreten hat, kann ich es Ihnen sagen. Ich kann Ihnen auch sagen, wann er wieder gegangen ist. Seit sechzehn Jahren, sieben Monaten und einundzwanzig Tagen.»
    Khare klappte das Besucherbuch zu und schniefte.
    «Davor war ich Wachmann in der Raj-Kiran-Genossenschaft in Kalina. Eine anständige Genossenschaft. Auch dort bekamen sie von einem Bauherrn ein Sanierungsangebot. Ein Mann weigerte sich, das Angebot zu unterschreiben, ein gesunder junger Mensch, nicht so wie Sie, und eines Morgens stolperte er, fiel die Treppe runter und verletzte sich die Knie. Er hat im Krankenhausbett unterschrieben.»
    Masterji schloss für einen Augenblick die Augen.
    «Drohst du mir, Ram Khare?»
    «Nein, Sir. Ich sage Ihnen nur, dass in meinem Kopf eine Schlange ist. Sie ist lang und schwarz.»
    Der Wachmann breitete die Arme aus.
    «Und ich wollte, dass auch Sie diese schwarze Schlange sehen. Jeden Tag klopft Mrs Puri oder Mrs Saldanha oder sonst jemand bei Ihnen und fragt: ‹Haben Sie sich entschieden? Unterschreiben Sie jetzt?› Und jeden Tag antworten Sie: ‹Ich denke darüber nach.› Wie lange soll das noch so weitergehen, Masterji? Für mich macht es zwar keinen Unterschied, ob Sie Ja oder Nein sagen. Wenn dieses Gebäude stehen bleibt, arbeite ich hier. Wenn es abgerissen wird, werde ich irgendwo anders arbeiten. Aber …»
    Ram Khare öffnete seinem Gast die Tür. «… ich habe eine Verpflichtung Ihnen gegenüber. Und die habe ich jetzt, was immer auch geschieht, erfüllt. Krishna hat davon Kenntnis genommen.»
    Und mit diesen Worten wandte er sich wieder seiner
Bhagavad Gita
zu.
    «Sie stirbt nicht. Sie kann nicht verletzen und kann nicht verletzt werden. Sie ist unbesiegbar, unsterblich und …»
    Eine Frechheit,
dachte Masterji, als er auf den Eingang seiner Genossenschaft zuschritt.
Redet da von einer schwarzen Schlange in Vishram.
    Er sollte sich beim Verwalter beschweren. Mrs Rego hatte recht,Ram Khare trank zu viel. Er hatte im Wachhäuschen Melasse gerochen.
    Mrs Puri stand an ihrem Fenster und beobachtete ihn durch das Gitter.
    «Mrs Puri», rief er, «wollen Sie hören, was Ram Khare eben zu mir gesagt hat? Er sagte, ich sollte mir Gedanken machen, was Sie und die anderen in Vishram mir antun könnten.»
    Während er noch zu ihr sah, schloss sie das Fenster und ließ die Jalousie herunter.
Hat mich wohl nicht gesehen,
dachte er. Er tat das ständig, übersah Leute, die direkt vor ihm standen. Ab einem gewissen Alter ließ sich das nicht mehr ändern.
    Mit dem Koriander in der Hand betrat er das Gebäude.
    Mrs Puri zog sich vor ihren Schlafzimmerspiegel zurück und bürstete, um sich zu beruhigen, ihr langes schwarzes Haar.
    Am Morgen hatte ihr Mann sie beim Verlassen der Wohnung angebrüllt. Das erste Mal, dass er sie in Ramus Gegenwart angebrüllt hatte.
Er
habe diesem alten Mann nie getraut. Sie sei diejenige, die Masterji einen «englischen Gentleman» genannt habe.
Sie
sei diejenige, die gesagt habe: «Ich
kenne
meinen Masterji.»
    Ramu, der spürte, dass seine Mutter aufgewühlt war, setzte sich neben sie und ahmte sie mit einer imaginären Bürste nach. Sie bemerkte es und schluchzte dankbar ein wenig vor sich hin.
    Sie wischte ihr Handy am Unterarm ab und drückte auf die Wahlwiederholung.
    «Gaurav, ich bin’s noch mal», schluchzte sie. «Warum kommst du nicht her, Gaurav? Sprich mit ihm. Bring Ronak mit. Er wird seine Meinung ändern; er ist dein Vater. Sei nicht so starrsinnig wie er, Gaurav. Du musst

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