Letzter Mann im Turm - Roman
verschwinden und stürmte gegen die Wellenbrecher an, die Strand und Straße trennten, brach sich am Ufer mit stetigen Tropfenschauern, welche die Zuschauer, die sich unter schwarzen Regenschirmen zusammendrängten, aufschreien ließen.
Shah wies seinen Fahrer an, langsam am Wasser auf und ab zu fahren; als das Auto eine Kehrtwende machte, rutschte er auf die andere Seite, sodass er weiter das Meer im Blick hatte. «Dieser alte Lehrer und seine Stimmungsschwankungen sind mir vollkommen egal. Sie sagen jetzt diesem Verwalter, dass er keine Rupie von seinem Extra sehen wird – was haben wir ihm versprochen, 100.000 mehr? –, wenn er es sich nicht verdient. Hab ich dir nicht von Anfang an gesagt, dass dieser Lehrer Ärger machen wird? Und du, Shanmugham, sag mir nie wieder, dass etwas erledigt ist, bis es wirklich erledigt ist, bis die Unterschrift da ist, bis –»
Mr Shah warf das Handy in eine Ecke.
Er hatte gehofft, dass es dieses Mal keinen Kampf geben würde. Bei einem derart großzügigen Angebot. Aber es würde
immer
ein Kampf sein. Das lag in der Natur dieser bescheuerten Stadt. Washätte er inzwischen nicht alles gebaut, wenn er in Shanghai wäre – Krankenhäuser, Flughäfen, dreizehnstöckige Einkaufszentren! Und hier, all diese Probleme, bloß um ein paar Luxusapartments zu bauen …
Der Schleim in seiner Brust verklumpte sich; sein Atem klang wie das Knurren eines wilden Hundes. Shah hustete und spuckte in sein Taschentuch. Mit dem Finger prüfte er die Farbe seiner Spucke.
Er beugte sich vor und hob das Handy auf; erneut wählte er Shanmughams Nummer.
Parvez, der Fahrer, schaltete die Scheibenwischer ein. Der Regen hatte wieder eingesetzt.
«Warte», sagte Shah. «Halt hier an.»
Die Jungen, die im Bushäuschen zu ihrer Linken standen, klatschten Beifall.
Auf der anderen Straßenseite trug ein zerlumpter Mann einen anderen Mann auf seinem Rücken durch den Regenvorhang Richtung Bushaltestelle. Der Mann oben war in einen Umhang aus blauer Abdeckplane gehüllt, der sich um beide bauschte. Derjenige, der das Tragen übernommen hatte, geriet durch den Wind und das Gewicht auf seinen Schultern ins Schwanken; durch den Regen blitzten ihn Scheinwerfer an, dennoch kam er den jubelnden Zuschauern immer näher, als würden sie ihn durch ihre bloße Willenskraft zum sicheren Unterstand ziehen.
«Sir?» Shanmugham war immer noch in der Leitung. «Wollen Sie, dass ich in Vishram Maßnahmen ergreife? Soll ich das tun, was ich letztes Jahr bei diesem Bau in Sion gemacht habe?»
Shah betrachtete die Männer im Regen. Er warf seine Willenskraft mit in die Waagschale und trieb die beiden Männer voran, bis sie in den Unterstand taumelten.
Shah lächelte. Er schlug mit einem goldenen Ring gegen das Fenster; Parvez drehte sich um.
21. JULI
Krähenfüße bildeten sich strahlenförmig um Ram Khares Augen, als er in seiner
Bhagavad Gita
las, wie ein Sinnbild des Netzes, das das Schicksal über ihn geworfen hatte.
Als er ein Teenager gewesen war, hatte er gehofft, bei der Ranji Trophy für Bombay Kricket spielen zu dürfen; als er in seinen Zwanzigern gewesen war, hatte er davon geträumt, ein Haus zu kaufen; als er in seinen Dreißigern gewesen war, davon, seine alten Eltern auf eine Pilgerfahrt in die heilige Stadt Benares mitzunehmen.
Im Alter von sechsundfünfzig stellte er fest, dass sich sein Leben auf drei Dinge reduziert hatte: seine Tochter Lalitha, eine Absolventin der St. Catherine’s School, die mittlerweile in Pune Informatik studierte, seinen Rum und seine Religion.
Der Morgen gehörte der Religion. Ram Khare stand mit einer schwarzen Gebetskette aus Ölfrüchten in der Linken in seinem Wachhäuschen und presste einen Finger auf Seite 23. «An welchen Zeichen kann man eine Seele erkennen? Hör auf die Worte Krishnas, der sagt: Die Seele wird nicht geboren und wird nicht …»
Schritte näherten sich Vishram. Er wandte sich zum Tor und sagte: «Nur eine Minute, Masterji. Eine Minute.»
Khare öffnete die Blechtür des Wachhäuschens, trat zur Seite und bat Masterji herein. Der alte Lehrer, der mit einem Bund frischem Koriander für die Pintos zurückkam, hielt diesen hoch, eine Geste des Protests.
Khare sagte:
«Eine
Minute.»
Von der Hartnäckigkeit des Dienstboten entwaffnet, gab Masterji auf und betrat, zum ersten Mal in zweiunddreißig Jahren, das Wachhäuschen der Vishram Society.
«Wenn Sie sich bloß einen kleinen Moment gedulden möchten, Sir, dann zeige ich Ihnen mein
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