Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
Zentimeter an ihrem Gesicht vorbei. Sie spürte die Schockwelle und hörte ein Zischen, als die Kugel mit doppelter Schallgeschwindigkeit an ihr vorbeijagte und die Luft um sie herum versengte.
Sie stöhnte leise und warf sich schutzsuchend bäuchlings auf die Erde.
Nein! Du hattest eine Chance zu schießen. Als er nachlud. Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt hat er nachgeladen und wieder entsichert.
Sie blickte kurz auf, hob ihre Pistole und verlor dann den Mut. Mit gesenktem Kopf richtete sie die Glock in die ungefähre Richtung der Bäume und feuerte rasch hintereinander fünf Schüsse ab.
Sie hätte genausogut mit Platzpatronen schießen können.
Mach schon, Mädchen. Steh auf. Ziel und schieß. Du hast noch sechs Patronen übrig und noch zwei Magazine am Gürtel.
Aber der Beinahetreffer saß ihr in den Knochen und hielt sie wie im Würgegriff zu Boden gepreßt.
Mach es! befahl sie sich selbst.
Aber sie konnte es nicht.
Ihr Mut reichte nur soweit, den Kopf ein paar Zentimeter zu heben - gerade genug, um zu sehen, wie Percey Clay auf das Tor zurannte.In diesem Augenblick hatte Jerry Banks Percey eingeholt und warf sie zu Boden, wo sie hinter einem Dieselgenerator liegenblieb. Sachs hörte den dröhnenden Knall aus dem Lauf des Gewehres, nur Millisekunden nachdem die Kugel mit einem gräßlichen Zischen Banks traf. Der junge Detective trudelte wie ein Betrunkener im Kreis und versprühte eine Blutwolke um sich.
Auf seinem Gesicht stand zuerst Erstaunen, dann Verwirrung und schließlich nur noch Leere, als er auf den feuchten Betonboden sank.
5. Stunde von 45
»Und?« fragte Rhyme.
Lon Sellitto klappte sein Telefon wieder zu. »Sie können immer
noch nichts sagen.« Er blickte aus dem Fenster von Rhymes Haus und trommelte mit den Fingern gegen die Scheibe. Die Falken waren auf das Sims zurückgekehrt, richteten ihr Augenmerk aber auf den Central Park und ignorierten ausnahmsweise den Lärm.
Rhyme hatte den Detective noch nie so aufgewühlt erlebt. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Sein teigiges Gesicht war bleich. Sellitto war im Morddezernat eine Legende und normalerweise unerschütterlich. Er konzentrierte sich stets ganz und gar auf die vor ihm liegende Aufgabe, ob er nun Angehörige von Opfern tröstete oder unerbittlich das Alibi eines Verdächtigen durchlöcherte. Aber in diesem Augenblick waren seine Gedanken meilenweit entfernt bei Jerry Banks, der gerade in einem Krankenhaus in Westchester operiert wurde und vielleicht nicht mehr zu retten war. Es war 15.00 Uhr, und Banks lag seit einer Stunde auf dem Operationstisch.
Sellitto, Sachs, Rhyme und Cooper hatten sich in Rhymes Labor im Erdgeschoß seines Hauses zusammengefunden. Dellray war unterwegs, um das Sicherheitsversteck zu prüfen und nach dem neuen Babysitter zu sehen, den das New York Police Department als Ersatz für Banks abgestellt hatte.
Sie hatten Banks am Flughafen in den Krankenwagen getragen, in dem schon die Leiche des seiner Hände beraubten Bauarbeiters lag. Earl, der Sanitäter, hatte wenigstens für ein paar Minuten vergessen, daß er eigentlich ein Arschloch war, und hatte Banks' massive Blutungen gestoppt. Dann war er mit dem bleichen, bewußtlosen Detective in das mehrere Kilometer entfernte Krankenhaus gerast.
FBI-Agenten aus White Plains hatten Percey und Hale in einen gepanzerten Wagen verfrachtet und waren in Richtung Manhattan losgebraust, immer darauf bedacht, Ausweichmanöver zu fahren. Sachs hatte die neuen Tatorte untersucht: das Versteck des Heckenschützen, den Bus des Malers und den Fluchtwagen des Tänzers - der Lieferwagen einer Cateringfirma. Er wurde ganz in der Nähe der Stelle gefunden, an der er den Anstreicher getötet hatte. Sie vermuteten, daß er dort auch den Wagen versteckt gehalten hatte, mit dem er nach Westchester gekommen war.
Nachdem das erledigt war, raste sie mit den Beweismitteln nach Manhattan zurück.
»Was haben wir?« Rhyme richtete seine Augen auf Sachs und Cooper. »Irgendwelche Kugeln?«
Sachs, die sich vor Nervosität wieder einmal einen Nagel blutig gebissen hatte, antwortete: »Nicht eine. Er hat Sprengpatronen verwendet.« Sie wirkte völlig durcheinander, ihre Augen wanderten durch den Raum, als verfolgten sie einen Schwärm Vögel.
»So ist der Tänzer - ein eiskalter Killer, der auch noch dafür sorgt, daß sich seine Spuren selbst zerstören.«
Sachs hielt eine Plastiktüte hoch. »Das ist von einer übriggeblieben. Ich hab's von einer Wand
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