Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
betrachten. Er beugte sich über das Mikroskop.
Rhyme studierte die dünnen Haare ebenfalls.
»Tier«, verkündete er.
»Noch mehr Katzen?« fragte Sachs.
»Mal sehen«, murmelte Cooper mit gesenktem Kopf.
Doch diese Haare stammten nicht von einer Katze, sondern von einem Nagetier. »Ratte«, verkündete Rhyme. »Rattus norvegicus. Die gemeine Kanalratte.«
»Mach weiter. Was ist in dieser Tüte, Sachs?« fragte Rhyme wie ein hungriger Junge, der in einem Süßwarenladen die Schokolade in der Vitrine beäugte. »Nein, nein. Dort. Ja, diese da.«
In der Tüte war ein Papierhandtuch mit einem blassen, braunen
Schmierfleck darauf. »Das habe ich auf dem Steinblock gefunden, den er weggeschoben hat. Ich denke, es war an seiner Hand. Da waren keine Fingerabdrücke, aber der Abdruck könnte von seiner Handfläche stammen.«
»Warum denken Sie das?«
»Weil ich meine eigene Hand mit Dreck eingerieben und dann gegen einen anderen Steinblock gepreßt habe. Es hat denselben Abdruck ergeben.«
Das ist meine Amelia, dachte er. Für einen Augenblick kehrten seine Gedanken zur vergangenen Nacht zurück - sie beide zusammen im Bett. Schnell verdrängte er den Gedanken wieder. »Was ist es, Mel?«
»Sieht wie Schmiere aus. Vermischt mit Staub, Schmutz, Holzpartikeln und organischem Material. Tierfleisch, vermute ich. Alles sehr alt. Und schau nur, dort in der oberen Ecke.«
Rhyme betrachtete einige silberne Tupfer auf seinem Computerschirm. »Metall. Gemahlen oder von etwas abgekratzt. Jag es durch den Gaschromatographen. Laß uns sichergehen.« Das tat Cooper.
»Petrochemisch«, berichtete er. »Grob raffiniert, keine Zusätze... Da ist Eisen mit Spuren von Mangan, Silikon und Kohlenstoff.«
»Warte«, rief Rhyme. »Irgendwelche anderen Elemente Chrom, Kobalt, Kupfer, Nickel, Wolfram?« »Nein.«
Rhyme starrte an die Decke. »Das ist richtig alter Stahl, aus Roheisen in einem Bessemer-Hochofen hergestellt. Wenn er aus unserer Zeit stammen würde, wären noch einige der anderen Materialien mit darin.«
»Hier ist noch etwas anderes. Kohlenteer.« »Kreosot!« rief Rhyme aus. »Ich hab's. Der erste schwere Fehler des Tänzers. Sein Partner ist eine wandelnde Straßenkarte.« »Die wohin führt?« fragte Sachs.
»Zur U-Bahn. Die Schmiere ist alt, der Stahl stammt von alten Anlagen und alten Schienennägeln, das Kreosot von den Schwellen. Oh, und die Fliesenfragmente sind aus einem Mosaik. Viele der alten Bahnhöfe waren gefliest - die Mosaike zeigen Szenen aus dem jeweiligen Stadtviertel.«
Sachs nickte: »Stimmt. Im Bahnhof Astor Place sind auf den Mosaiken die Pelztiere abgebildet, mit denen Johann Jacob Astor handelte.«
»Verfugte Porzellanfliesen. Also das ist es, was der Tänzer von ihm wollte. Ein Versteck. Der Freund des Tänzers ist vermutlich ein obdachloser Drogenabhängiger, der irgendwo in einem stillgelegten Tunnel oder Bahnhof haust.«
Rhyme bemerkte plötzlich, daß alle auf eine dunkle Silhouette im Türrahmen blickten. Er hielt inne.
»Dellray?« fragte Sellitto zögernd.
Fred Dellray blickte mit düsterem Gesicht zum Fenster hinaus.
»Was ist los?« fragte Rhyme.
»Innelman. Sie haben versucht, ihn wieder zusammenzuflicken. Dreihundert Stiche haben sie ihm verpaßt. Aber es war zu spät. Hatte zuviel Blut verloren. Er ist eben gestorben.«
»Das tut mir leid«, sagte Sachs.
Der Agent hob die Hände, seine langen, knochigen Finger sahen wie Dornen aus.
Jeder im Raum wußte von Dellrays langjährigem Partner, der beim Bombenanschlag von Oklahoma getötet worden war. Dann Dellrays Agent Tony Panelli, der vor ein paar Tagen in der Stadt entführt worden war. Ein paar Körner seltsamen Sandes stellten den einzigen Hinweis auf seinen Verbleib dar -vermutlich war er inzwischen tot.
Und nun war noch einer von Dellrays Freunden getötet worden.
Der Agent drehte wütende Runden durch das Zimmer.
»Ihr wißt, warum Innelman erstochen wurde, nicht wahr?«
Jeder wußte es; keiner antwortete.
»Als Ablenkungsmanöver. Das ist der einzige Grund in der Welt. Um uns aufzuhalten. Könnt ihr euch das vorstellen? Ein verdammtes Ablenkungsmanöver.« Er blieb abrupt stehen und sah Rhyme aus furchterregenden schwarzen Augen an. »Hast du irgendwelche Spuren, Lincoln?«
»Nicht viele.« Er erklärte, was er über den obdachlosen Freund des Tänzers wußte, die Drogen, den Unterschlupf irgendwo in der U-Bahn.
»Das ist alles?«
»Ich fürchte, ja. Aber wir haben noch mehr Beweismaterial, das
wir
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