Letzter Tanz - Lincoln Rhyme 02
seine Hände gerichtet, fuhr Stephen fort: »Tatsache ist, daß ich in letzter Zeit nicht so... daß ich nicht wirklich so an Frauen interessiert bin wie die meisten Männer. Aber das ist nur ein vorübergehender Zustand.«
»Vorübergehend«, wiederholte Jodie.
Seine Augen verfolgten das Seifenstück, als sei es ein Gefangener, der auszubrechen versuchte.
»Vorübergehend. Aufgrund der notwendigen Wachsamkeit. Bei meiner Arbeit, meine ich.«
»Klar. Deine Wachsamkeit.«
Schrubb, schrubb, die Seife schäumte wie Gewitterwolken.
»Hast du jemals eine Schwuchtel umgelegt?« fragte Jodie neugierig.
»Ich weiß es nicht. Ich kann dir nur sagen, daß ich niemals jemanden getötet habe, weil er homosexuell war. Das würde keinen Sinn machen.« Stephens Hände prickelten und kribbelten. Er schrubbte fester, ohne Jodie anzublicken. Er war mit einemmal erfüllt von einem merkwürdigen Gefühl - daß er mit jemandem sprach, der ihn vielleicht verstehen würde. »Sieh mal, ich töte ja nicht Leute, nur um sie zu töten.«
»Okay«, sagte Jodie. »Aber was wäre, wenn ein Betrunkener auf der Straße auf dich zukäme, dich herumschubsen und beschimpfen würde, ich weiß nicht, dich meinetwegen eine alte Schwuchtel nennen würde? Dann würdest du ihn doch umlegen, stimmt's? Wenn du wüßtest, daß man dich nicht erwischen würde?«
»Na ja, alt würde er mich wohl auf keinen Fall nennen, oder?«
Jodie zwinkerte, dann lachte er. »Der war gut.«
Hab ich grade einen Witz gemacht? fragte sich Stephen. Er lächelte, erfreut darüber, daß er Jodie beeindruckt hatte.
Jodie fuhr fort: »Okay, sagen wir, er hat dich nur eine Schwuch
tel genannt.«
»Natürlich würde ich ihn nicht umlegen. Und ich sag dir was, wenn wir schon über Schwule reden, laß uns auch über Neger und Juden reden. Ich würde keinen Neger töten, es sei denn, ich wäre angeheuert worden, um jemanden zu töten, der zufällig ein Neger wäre. Es gibt vermutlich gute Gründe, warum es keine Neger geben sollte, wenigstens nicht hier in diesem Land. Mein Stiefvater hatte eine Menge Gründe dafür. Und ich bin da weitgehend einig mit ihm. Er dachte dasselbe über Juden, aber in diesem Punkt bin ich anderer Meinung. Juden geben sehr gute Soldaten ab. Ich respektiere sie.«
Das Reden gefiel ihm: »Sieh mal, Töten ist ein Geschäft, mehr nicht. Denk nur an Kent State. Ich war damals noch ein Kind, aber mein Stiefvater hat mir davon erzählt. Weißt du Bescheid über die Studentenunruhen in Kent State? Als die Nationalgarde auf die Studenten geschossen hat?« »Klar. Ich weiß Bescheid.«
»Also, komm, niemanden kümmert es wirklich, wenn ein Student stirbt, stimmt's? Aber in meinen Augen war es dumm zu schießen. Denn welchen Zweck hatte das? Gar keinen. Wenn man die Bewegung, oder was auch immer es war, hätte aufhalten wollen, hätte man ihre Führer aufs Korn nehmen und beseitigen sollen. Das wäre einfach gewesen. Infiltrieren, evaluieren, delegieren, isolieren, eliminieren.«
»Machst du das so, wenn du jemanden umbringst?« »Du infiltrierst seine Umgebung. Evaluierst die Hindernisse für den Mord und die mögliche Abwehr. Du delegierst den Job, jedermanns Aufmerksamkeit vom Opfer abzulenken - läßt es so aussehen, als ob du aus der einen Richtung angreifst, aber dann stellt sich heraus, daß er nur der Botenjunge oder Schuhputzer oder so was ist, und in der Zwischenzeit hast du dich von hinten an das Opfer herangeschlichen. Dann isolierst du es und eliminierst es.« Jodie nippte an seinem Orangensaft. Dutzende leerer Orangensaftdosen türmten sich in der Ecke. Es schien sein einziges Nahrungsmittel zu sein. »Weißt du«, sagte er und wischte sich den Mund am Ärmel ab, »man sollte meinen, daß Berufskiller verrückt sind. Aber du scheinst nicht verrückt zu sein.«
»Ich glaube nicht, daß ich verrückt bin«, gab Stephen nüchtern zurück.
»Die Leute, die du umbringst, sind die schlecht? Betrüger und Mafialeute und so?«
»Nun, sie haben den Leuten etwas Schlimmes angetan, die mich dafür bezahlen, daß ich sie umbringe.«
»Das heißt also, sie sind schlecht?«
»Klar.«
Jodie lachte benebelt, die Augen halb geschlossen. »Nun, es gibt Leute, die würden sagen, daß das nicht so ganz die richtige Methode ist, um herauszufinden, was gut und was schlecht ist.«
»Okay, was ist gut und was schlecht?« erwiderte Stephen. »Ich mache nichts anderes als Gott. Bei einem Zugunglück sterben gute Menschen und schlechte Menschen, und niemand
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