Letzter Weg
Grace.
»Vielleicht nie.«
129.
Zu der Prozedur, die er über sich ergehen lassen musste – das wusste Sam –, gehörte auch der Besuch bei einem Psychologen.
Er hatte eine Frau getötet. Ob man das schlussendlich als gerechtfertigt beurteilen würde oder nicht, es änderte nichts an der Tatsache, dass er für Kez Flanagans Tod verantwortlich war. Um Cops in solchen Situationen kümmerte man sich zumeist außergewöhnlich gut, egal ob sie nun zugaben, wegen des Geschehens unter Stress zu stehen oder nicht. Man brachte sie stets zu den entsprechenden Ärzten und Psychologen, zum Teil zu ihrem eigenen Besten, zum Teil aber auch, um Berichte schreiben zu können, die entweder in Akten verschwanden oder vor Gericht gegen sie verwendet wurden.
Sam kam zu dem Schluss, dass ein Psychologe vielleicht gar keine so schlechte Idee war.
Er konnte sich nicht vorstellen, wieder zur Arbeit zu gehen, ohne vorher nicht mindestens einen Teil seiner Selbstzweifel abgelegt zu haben. Tatsächlich war er nicht mehr sicher, ob er noch für diesen Job geeignet war.
Ein Mann, dem man eine Schusswaffe anvertraute, durfte sich nicht so verhalten, wie er es getan hatte.
Daran hegte er keinerlei Zweifel, auch wenn er in dem Glauben auf Kez geschossen hatte, Cathy schwebe in Lebensgefahr. Und bei genauerer Betrachtung musste er zugeben, dass er unter den gleichen Umständen vermutlich noch einmal so handeln würde.
Doch wenn ihn das als Polizisten ungeeignet machte, war er dann auch nicht mehr in der Lage, Ehemann und Vater zu sein? Hatte ein Mann, der so etwas getan hatte, sich aber nicht wirklich dafür schämte, überhaupt das Recht, neues Leben in die Welt zu bringen?
Die Vorstellung, wieder nach Hause zu gehen – wenn sie ihn denn ließen –, machte ihn nervös.
Wenn er nach Hause ging, bedeutete das, dass er wirklich Zeit mit Cathy würde verbringen müssen, nicht nur ein paar tröstende Augenblicke in Gegenwart von Polizisten, Anwälten oder Psychologen.
Schon viel zu bald würde niemand mehr da sein, der den Hass unterdrückte, der in Cathys Innerem schwelen musste, denn egal, was sie bisher gesagt haben mochte, Sam hatte das Leben ihrer Geliebten ausgelöscht.
Und schlimmer noch, vermutete er, ihre Liebe an sich.
Wie sollte sie ihm das je vergeben?
130.
»Der Tag, an dem es wirklich begann«, sagte Lucia, »war der Tag, an dem ihr Vater gestorben ist.«
Bis dahin, hatte sie gesagt, hatte niemand – nur die Katze – sein Leben verloren. Es hatte Raufereien gegeben. Wegen ihres Temperaments hatte Kez immer wieder Ärger bekommen, doch niemand war schwer verletzt worden. Niemand war getötet worden.
»Bis Kez Joey dabei ertappt hat, wie er Sex mit Lindy Jerszinsky hatte – seiner und Ginas Nachbarin –, und Lindy hat sie ausgelacht, hat verächtlich die Nase gerümpft, wie Kez mir erzählt hat. Und Kez hatte schon immer dieses Problem, wenn man sie auslachte, wissen Sie?«
»Ja«, sagte Grace. »Das hat Cathy mir schon erzählt.«
»Und hat sie Ihnen auch erzählt, was Kez mit Lindy gemacht hat?« Lucia schüttelte den Kopf. »Das habe ich auch nicht gedacht.« Sie schwieg einen Moment, verhielt sich vollkommen ruhig. »Sie hat eine Schere vom Ankleidetisch ihrer Mutter genommen und sie der Frau in den Mund gerammt.«
Grace wurde übel.
»Tut mir leid«, sagte Lucia. »Vielleicht sollte ich nicht …«
»Nein«, sagte Grace. »Sie müssen reden.«
»Ja, vielleicht muss ich das wirklich«, sagte Lucia. »Und dann hatte Joey einen Herzinfarkt und ist gestorben, und Kez ging ans Telefon und hat ihre Tante Lucia angerufen.«
»Nicht ihren Onkel?«, fragte Grace.
»Kez hat sich Phil nie anvertraut, nur mir. Sie schien immer zu wissen, dass ich diejenige war, die ihr helfen würde.« Lucia schüttelte den Kopf. »Ich wusste, was für eine bedeutsame Entscheidung ich traf, und jetzt weiß ich auch, dass es die falsche Entscheidung war. Doch damals, mit dem armen kleinen Ding, das ganz außersich und voller Blut war, glaubte ich nichts anderes tun zu können.«
Grace wartete einen Augenblick. »Und jetzt, Jahre später – was glauben Sie, hätten Sie anders machen sollen?«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht«, antwortete Lucia misstrauisch. »Hätte ich jemanden wie Sie gekannt, es Ihnen erzählt, hätten Sie die Cops anrufen müssen – das Gleiche galt für Dr. Becket damals –, und das hätte das Ende für Kez bedeutet.«
»Nicht unbedingt«, sagte Grace.
»Glauben Sie?« Das war ironisch
Weitere Kostenlose Bücher