Leuchtendes Land
Mädchen selbst, einige Tage später hatte es vielmehr sogar gelogen und behauptet, es sei das Flussufer hinuntergestürzt. Kein Sturz konnte derartige Striemen an Rücken und Beinen hinterlassen. Was tatsächlich passiert war, blieb ein Geheimnis, und die anderen hatten Lil klargemacht, dass es sie nichts anging. Dass sie eine Außenseiterin war.
»Was kümmert es mich?«, fragte Lil die Kuh, die sie daraufhin mit großen, treuen Augen anschaute. »Meinetwegen sollen sie sich allesamt verprügeln lassen.« An einem Sonntagmorgen war das sonst so vorlaute Küchenmädchen in Tränen aufgelöst gewesen und hatte dennoch kein Wort sagen wollen. Alle hatten auf ihren Plätzen im Dienstbotensaal gesessen, Porridge gegessen, getratscht und sich keinen Deut um das Mädchen geschert. Auch Lil hatte nichts gesagt.
Das mit dem Dienstbotensaal war auch so eine Sache. Miss Lavinia bestand darauf, dass der Tisch zu jeder Mahlzeit anständig gedeckt war und das Personal beste Tischmanieren an den Tag legte.
Nach einer Weile bemerkte Lil, dass die anderen sie auslachten, weil sie so etwas nie gelernt hatte. In ihrem bisherigen Leben war sie auch ohne den richtigen Gebrauch der verschiedenen Messer und Gabeln zurechtgekommen. Schließlich saßen sie ja nicht im feinen Speisezimmer bei Mr. Warburton oder Miss Lavinia! Als sie begriff, worüber die anderen lachten, verlegte Lil sich aufs Beobachten. Sie zog es vor, auf diese Weise zu lernen, statt zu fragen. Als Miss Lavinia eines Morgens den Dienstbotensaal betrat, hörte Lil auf zu essen, da sie fürchtete, sich zu blamieren.
»Stillst du dein Kind noch?«, erkundigte sich Miss Lavinia.
»Ja, Miss.«
»Dann solltest du mehr essen.«
»Ja, Miss.«
Lil seufzte erleichtert, doch am nächsten Tag erwartete Miss Lavinia sie am Tor zu den Dienstbotenunterkünften.
»Es wird Zeit, das Baby abzustillen. Ich habe früher oft Babys gepflegt. Hier sind einige schriftliche Anweisungen.«
»Ja, Miss.«
»Lies sie sorgfältig durch. Zuerst gibst du der Kleinen mit Wasser im angegebenen Mischverhältnis verdünnte Milch. Du kannst die Milch in der Küche warm machen. Verstanden?«
»Ja. Vielen Dank, Miss.«
Lil kochte innerlich vor Zorn. Was gab dieser alten Jungfer das Recht, ihr Vorschriften über den Umgang mit ihrem eigenen Baby zu machen? Die Antwort war nicht schwer: ihre Macht. Entweder gehorchte man Miss Lavinia, oder man landete ohne Zeugnis im nächsten Boot.
Die neuen Regeln trugen Lil Ärger mit der Köchin ein, die nur ungern Fremde in ihrer Küche duldete, ganz zu schweigen von Lil, die mehrmals am Tag Milch auf dem Herd erhitzen wollte. Da sie sich nicht bei ihrer Herrin beschweren konnte, machte die Köchin Lil das Leben so schwer wie möglich, ließ sie warten oder schubste sie mit dem Ellbogen beiseite.
»Es wird dir nichts bringen, wenn du dich bei Miss Lavinia einschmeichelst«, bemerkte sie hämisch. »Sie ist total verrückt.«
»Und du fährst stromabwärts, wenn ich ihr das erzähle«, fuhr Lil die Köchin an.
Diese ließ eine schwere Pfanne auf den Tisch plumpsen. »Das wagst du nicht!«
»Ach nein? Darauf würde ich mich aber nicht verlassen.«
Von nun an hatte Lil in der zweitmächtigsten Frau im Haus eine Verbündete. Sie verteidigte Lil, wenn die anderen über ihre ständigen religiösen Ergüsse lachten, und legte bei Miss Lavinia ein gutes Wort für sie ein.
Als Lil an diesem Tag mit dem Melken fertig war und die Kühe wieder auf die Weide getrieben wurden, spürte sie einen Anflug von Traurigkeit. Sie würde die Tiere vermissen. Denn dank Mrs. Morgan, der Köchin, hatte man sie zum Hausmädchen befördert, wobei sie auf eigenen Wunsch die Verantwortung für die Molkerei behielt.
Sich bei Miss Lavinia einschmeicheln? Lächelnd zog sie die Schürze und die schweren Stiefel aus und trat hinaus in die Abendstille. Diese Zeit des Tages, wenn die untergehende Sonne das schöne Haus und den Park in warmes Dämmerlicht tauchte, gefiel ihr am besten. Natürlich machte sie sich lieb Kind bei Miss Lavinia, wieso auch nicht? Lil wusste, dass ihrer Herrin ihr Fleiß und ihre fröhliche Art nicht entgangen waren. Nie musste man ihr sagen, sie solle arbeiten statt zu klatschen, da sie sich absichtlich von den anderen Dienstboten fernhielt.
Lil Cornish wurde bald erstes Hausmädchen. Sie sorgte dafür, dass Mr. Warburton und Miss Lavinia ein angenehmes Leben führen konnten und keinen Grund zur Klage hatten.
Ihr Liebling Caroline machte gar keine Mühe.
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