Leuchtendes Land
Glasscheibe, die den Serviererinnen ihre Arbeit erleichtern sollte. Als Lil die Tür aufdrücken wollte, bemerkte sie, dass sich in dem dämmrigen Raum etwas bewegte, und fuhr schuldbewusst zurück. Miss Lavinia war bereits in dem Zimmer. Doch Lils Neugier gewann die Oberhand, denn es war nicht die Miss Lavinia, die sie kannte. Im Licht einer winzigen roten Lampe auf dem Tisch erspähte Lil eine ältere Frau in einem langen weißen Nachthemd, deren Haar wild vom Kopf abstand.
Sie unterdrückte ein Kichern. Miss Lavinia hatte auf ihrem Weg zum Fenster einen Stuhl umgeworfen und taumelte jetzt auf die Anrichte zu.
Interessiert sah Lil zu, wie sich ihre Herrin vorbeugte, um die Tür der Anrichte zu öffnen und dabei das Gleichgewicht verlor. Sie murmelte wütend vor sich hin.
Noch bevor sie nach der Flasche greifen konnte, wusste Lil Bescheid. Die alte Gaunerin war betrunken!
Verwundert starrte Lil durch die Glasscheibe. Mit Trinkern kannte sie sich bestens aus. Schließlich war sie mit einem verheiratet gewesen und hatte auch schon viele Frauen erlebt, die diesem Laster verfallen waren. Aber keine reichen Frauen! Vornehme Damen wie Miss Warburton nippten beim Essen an ihrem Wein, doch sie schütteten ihn nicht in sich hinein. Und schon gar nicht nachts.
Sie trat einen Schritt zurück, behielt die Frau aber im Auge. Miss Lavinia saß auf dem Boden und nahm nun einen Schluck aus der Flasche. Was sie trank, konnte Lil nicht erkennen, aber es musste Schnaps sein, da der Wein immer in Karaffen auf der Anrichte stand.
Schließlich rappelte sich ihre Herrin auf. Dabei fiel eine Porzellanfigurine zu Boden. Lil zuckte zusammen, als habe sie selbst die kostbare Schäferin zerbrochen. Miss Lavinia schob die Scherben unter die Anrichte und trat dann mit der Flasche in der Hand den Rückzug aus dem Speisezimmer an. Den Stuhl stellte sie mit übertriebener Sorgfalt wieder an seinen Platz, löschte die Lampe und ging in den Salon, während sie wirres Zeug vor sich hin murmelte. Dann war der Spuk vorbei.
Lil wärmte die Milch auf und fragte sich, ob Mr. Warburton den Lärm ebenfalls gehört hatte. Vermutlich nicht. Seine Räume lagen am anderen Ende des Hauses über der Bibliothek und dem großen Wohnzimmer. In ihrer Unterkunft gab sie dem Baby die Milch. Bald darauf schlief es friedlich ein.
Als Lil wieder ins Bett stieg, lächelte sie noch immer ungläubig. Ihr fiel ein, dass die Köchin Miss Lavinia als verrückt bezeichnet hatte und fragte sich, was wirklich damit gemeint war.
Am nächsten Morgen ging der Ärger los.
Das gesamte Hauspersonal wurde ins Speisezimmer zitiert, wo Miss Lavinia wutentbrannt mit ihrem Stock auf das zerbrochene Porzellan deutete, das sie unter der Anrichte hervorgeholt hatte.
»Wer war das?«, rief sie. »Ich verlange den Namen des Schuldigen.«
Während die anderen den Kopf schüttelten, schaute Lil mit gespielter Gleichgültigkeit zu Boden.
Sie mussten nacheinander vortreten, während die Herrin des Hauses ihren Stock schwang. Nun begriff Lil, wer die Mädchen mißhandelt hatte. Sie hatte schon länger den Verdacht gehegt, dass es Miss Lavinia gewesen sein könnte, diese Vermutung aber angesichts deren Umsicht und Frömmigkeit von sich gewiesen. Stattdessen hatte sie auf Jordan, den Vorarbeiter der Farm, getippt, der als jähzornig bekannt war und die Hausmädchen im Lagerhaus oft beim Auspacken von Obst und Gemüse helfen ließ. Als sie ihre Stelle angetreten hatte, hatte er sie scharf beobachtet, dann aber in Ruhe gelassen, da sie keinen Anlass zu Beschwerden gab. In letzter Zeit hatte sie nicht viel mit ihm zu tun gehabt, da man sie ins Haus versetzt hatte. Er war nicht so begeistert von dieser Entscheidung gewesen, doch was hätte er Miss Lavinia entgegensetzen können.
»Gut«, sagte Miss Lavinia und gestattete der Köchin zu gehen, da sich diese ohnehin nie im Speisezimmer aufhielt. »Ihr anderen werdet so lange bestraft, bis sich der Lügner meldet und mir die Wahrheit sagt.«
Grollend und schimpfend zogen sich die Dienstboten in ihre Räume zurück. Anschuldigungen schwirrten durch die Luft.
»Wir alle bekommen nur Wasser und Brot, bis sich jemand meldet«, teilte Lil der Köchin mit.
»Und sie zieht uns am Ende des Monats vier Shilling vom Lohn ab.«
»Das ist Pech.«
Lil empfand das Vorgehen ihrer Herrin als empörend. Die karge Ernährung störte sie nicht weiter, da Mrs. Morgan schon für sie sorgen würde, doch der Verlust von vier Shilling traf sie hart. Wenn diese
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