Leuchtendes Land
boshafte alte Frau, die mehr Geld besaß, als sie ausgeben konnte, ihrem Personal mehr als ein Pfund abnahm, kam dies einem Diebstahl gleich. »Sie ist eine Trinkerin, Diebin und Tyrannin«, murmelte Lil vor sich hin.
Falls sie den anderen von den Erlebnissen der letzten Nacht erzählte, konnte sie sich umgehend eine Fahrkarte zurück nach Perth kaufen.
»Ich war es nicht«, verkündete sie auf einer Zusammenkunft hungriger Mäuler, die an diesem Abend unter dem Baum vor der Frauenunterkunft stattfand. »Es ist ungerecht, dass auch ich leiden soll. Hätte ich nicht das Baby, würde ich auf der Stelle kündigen.«
Lil las in den Augen der anderen Frauen, dass sie diese Möglichkeit bereits erwogen hatten.
Mrs. Morgan meldete sich zu Wort. »Wer auch immer die Figur zerbrochen hat, sollte es sagen. Das erspart uns anderen eine Menge Ärger. Man wird schlimmstenfalls entlassen, aber Jordan wird trotzdem ein Zeugnis ausstellen.«
»Du hast noch keine Tracht Prügel bezogen!«, schrie Beth. »Wenn sich nicht bald jemand meldet, trifft es mich, das weiß ich genau.«
Mrs. Morgan beeilte sich, diese Bemerkung zu überspielen, die den anderen sichtlich unangenehm war.
»Es hat keinen Sinn, in der Vergangenheit zu wühlen. Wir müssen herausfinden, wer das Ding zerbrochen hat, und die Sache hinter uns bringen.«
»Was weißt du denn schon?«, höhnte Mercy. »Miss Lavinia greift nach ihrem Stock, wann immer sie Lust hat, und keiner sagt ein Wort, weil alle solche Angst vor ihr haben. Du und deine verdammten Zeugnisse! Niemand gibt Abos Zeugnisse. Ich und meine Mum verschwinden von hier.«
Ihre Mutter, die still unter dem Baum gesessen hatte, schoss hoch. »Nein, Mercy, nein! Sie hat es nicht so gemeint. Sie ist nur wütend. Mercy war es nicht.« Sie wandte sich an ihre Tochter. »Komm schon, misch dich nicht in die Angelegenheiten weißer Frauen.«
»Ich werde nicht den Mund halten«, entgegnete Mercy. »Ich habe genug von diesem Haus. Ihr jammert alle wegen eurer verfluchten Arbeit, bekommt aber wenigstens Geld dafür. Wir kriegen nichts. Wir leben einfach nur hier! Und tut nicht so, als ob ihr das nicht wüsstet. Ihr wisst es alle. Auch du, Predigerin! Wir gehen jetzt unseren eigenen Weg, ohne Boot. Fahrt zur Hölle, alle miteinander!«
»Sag das nicht!«, schrie ihre Mutter, doch Mercy, das heranwachsende Aborigine-Mädchen, hatte plötzlich zu sich selbst gefunden. »Meine Mum und mich hat sie oft genug geschlagen. Beth hat recht. Und ich sag euch noch was: Wenn sie keine Prügel kriegt, bekomme ich sie, und darauf warte ich nicht!«
Erhobenen Hauptes griff Mercy nach dem Arm ihrer Mutter und marschierte mit ihr davon. Bald waren die beiden in der Dunkelheit verschwunden.
»Wie traurig das ist«, bemerkte Lil, doch eine Serviererin stand auf und trat vor sie hin.
»Warum hältst du nicht einfach den Mund? Ich habe deine Predigten satt. Und die der alten Schachtel auch. Sie hält uns hier wie Gefangene! Und sonntags dürfen wir im Kreis marschieren.«
»Du bekommst hier mehr Geld als irgendwo sonst«, warf Mrs. Morgan ein.
»Sicher doch, weil sie sonst gar keine Dienstboten finden würde. Ich kündige.«
Lil stand auf. »Bitte, Vera, tu das nicht. Wenn du gehst, gehen alle anderen auch. Du könntest sie hier halten.«
»Wieso denn das?«, keifte Vera. »
Du
bist doch die Musterschülerin. Am Freitag nehme ich das verdammte Boot. In der Stadt werde ich der Stellenvermittlung berichten, was hier vorgeht. Beth, du solltest besser mitkommen. Ich kenne die Gesetze. Du hättest die Alte mit einer Klage wegen Körperverletzung drankriegen können, wenn du nur früher den Mund aufgemacht hättest.«
»Träum du nur weiter«, gluckste Mrs. Morgan.
Die nächsten Tage verliefen chaotisch. Bei jeder Mahlzeit mit Brot und Wasser brach eine neue Meuterei aus. Mrs. Morgan versuchte die Wogen zu glätten, indem sie heimlich die Vorratskammer öffnete und kalte Pasteten und Kuchen servierte, doch die Dienstboten ließen sich nicht beschwichtigen. Das Küchenmädchen klapperte laut mit den Töpfen und putzte das Gemüse überaus nachlässig. Wertvolle Teppiche blieben draußen im Regen auf der Teppichstange hängen. Fenster standen offen, der Staub sammelte sich in allen Ecken. Vorhänge wurden zum Waschen abgenommen und nicht mehr aufgehängt. Vor den Augen von Mr. Warburton und seiner Schwester wurden die ohnehin schon fleckigen Tischtücher bekleckert, und bei jeder Mahlzeit fehlte etwas, sei es nun Salz, Zucker
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