Leuchtendes Land
Der Kinderwagen mit dem Moskitonetz stand entweder auf dem Hinterhof unter den Glyzinien oder an kühleren Tagen im Dienstbotenzimmer. Miss Lavinia kam oft vorbei. Zwar nahm sie das Baby niemals auf den Arm, verfolgte aber zufrieden dessen Fortschritte, die sie natürlich ihrem eigenen Ernährungsplan zuschrieb.
Mr. Warburton selbst wirkte ziemlich geistesabwesend. Die Dienstboten schien er gar nicht wahrzunehmen und hätte vermutlich nicht einen von ihnen beim Namen rufen können.
Sosehr sich Lil auch bemühte – es gelang ihr nicht, Miss Lavinia aus der Reserve zu locken. Sie blieb streng und distanziert, außer bei frommen Unterweisungen. Lil bedauerte inzwischen, dass sie überhaupt religiösen Eifer gezeigt hatte, denn Miss Lavinia ging ihr allmählich auf die Nerven. Jeden Sonntag wurde im Rosengarten oder auf der geschützten Veranda eine Messe für die Warburtons gelesen. Man erwartete von den Dienstboten, dass sie daran teilnahmen. Lil ertrug klaglos die sonntäglichen Gottesdienste, wurde danach aber noch zu ihrer Herrin gerufen, die ein Kapitel aus dem Alten Testament auswählte und sie anwies, es auswendig zu lernen.
Sicher meinte Miss Lavinia es gut, doch Lil fand diese Studien unerträglich. Die Geschichten verwirrten sie – in der Bibel gab es einige überaus seltsame Gestalten –, und je mehr sie sich bemühte, desto weniger verstand sie. Tatsächlich erlosch der plötzlich aufgeflammte Glaubensfunke, den Mrs. Dodds in ihr entzündet hatte, zusehends. Lil wurde allmählich wieder sie selbst und vertraute einfach auf Gott den Allmächtigen, der das Rad der Jahreszeiten drehte und Herr über das Leben war.
Dennoch, gestand sie Baby Caroline, durfte sie in ihrem religiösen Eifer nicht nachlassen, da in Miss Lavinias Augen das ständige Zitieren der Heiligen Schrift als Zeichen von Frömmigkeit galt. Folglich konnte sie es sich nicht erlauben, ihre Herrin durch mangelnden Glauben zu verärgern. Auch das Personal beobachtete Lil aufmerksam, so dass sie sich keinen Schnitzer leisten konnte. Und so ertrug sie diese lästige Lektüre, fügte sich den trockenen Sonntagsmessen und dem unverständlichen Singsang der Predigten, die der örtliche anglikanische Geistliche von sich gab.
Um ihren Aufstieg im Haus weiter zu beschleunigen, verstärkte Lil ihren missionarischen Eifer und verkündete, es sei ihre Pflicht, die anderen Frauen näher zu Gott zu bringen. Von deren Ungeduld und den Versuchen, ihren prüden Predigten zu entgehen, ließ sie sich nicht entmutigen. Nach einer Weile hatte sie sich daran gewöhnt, als Bibel schwingende Frömmlerin zu gelten, denn Minchfield empfand sie als ihr neues Zuhause, das sie um keinen Preis verlieren wollte.
Als ranghöchstes Hausmädchen gelangte sie nun in die herrlichen Räume, schlich auf Zehenspitzen durch die blank gebohnerten Flure und die breite Treppe aus Zedernholz hinauf. Lil verliebte sich in das Haus mit seinen prächtigen Möbeln, Kronleuchtern, Gemälden, dem Silber, kostbaren Porzellan und den anderen sündhaft teuren Dingen, in deren Mitte sie sich wie in einer Kathedrale fühlte. Sie ließ allem eine liebevolle Pflege angedeihen, die sich nach und nach zu einer förmlichen Besessenheit entwickelte. Nichts entging ihrem scharfen Blick, kein Fleck auf dem Spiegel, kein Fingerabdruck auf poliertem Holz, keine Porzellanfigurine, die nicht genau an ihrem Platz stand. So, wie sie zuvor die Milchmägde angetrieben hatte, bekamen nun die Hausmädchen und Serviererinnen ihren Zorn zu spüren, wenn sie nicht spurten. Es war, als sei Minchfield House an die Stelle Gottes getreten – ein Idol, das man sehen und berühren konnte.
Wenn das Baby unruhig war, schlüpfte Lil gelegentlich in die Küche und wärmte ein wenig Milch auf. In dieser Nacht zerrte ein starker Wind an den Bäumen, als sie ohne Lampe zur Küchentür lief und leise eintrat. Sie kannte den Raum so gut, dass ihr das blasse Mondlicht genügte, um sich zurechtzufinden. Sie stellte den kleinen Topf auf den Herd, in dem noch Asche glühte. Als sie die Milch aus der Speisekammer nehmen wollte, ertönte über ihr im Speisezimmer ein lautes Krachen.
Eine Sekunde lang fürchtete sie sich, vermutete dann aber, dass sich nur ein Fensterladen gelöst hatte. Lil lief die steinerne Treppe hinauf, um ihn zu befestigen, bevor der Lärm Miss Lavinia wecken würde, die unmittelbar über dem Speisezimmer schlief.
Zwischen dem Treppenabsatz und dem Zimmer befand sich eine Schwingtür mit einer
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