Leuchtfeuer Der Liebe
schob sie beiseite. „Setz dich ins Wohnzimmer, und ruh dich aus."
Beim Abwasch bemühte er sich, leise zu sein und nicht mit dem Geschirr zu klappern. Das Baby hatte sein Leben bereits verändert. Plötzlich fing das Kind in der Kammer an leise zu greinen.
„Bringst du mir das Baby?" fragte Mary.
So machte sie es ständig. Immer fand sie Ausreden, mit denen sie ihn zwang, den kleinen Wurm hochzuheben.
„Meine Hände sind nass", sagte er mürrisch.
Sie stand auf und huschte in die Kammer. Er hörte, wie sie leise mit Davy redete, während sie ihn stillte und die Windeln wechselte. Und er sah das Bild vor sich, an das er sich nie gewöhnen würde, an dem er sich nicht sattsehen konnte - Mary, die ihrem Kind die Brust gab.
Er trat auf die Veranda und atmete die kalte Herbstluft tief ein. Es war eine stürmische, aber klare Nacht. Magnus hatte Dienst auf dem Leuchtturm. Der Lichtschein streifte in regelmäßigen Abständen über die See.
Jesse erinnerte sich nicht mehr daran, wie er sich in Emily verliebt hatte. Er war zu jung und unerfahren für wirklich tiefe Empfindungen gewesen, um zu spüren, wie Schmerz und Verlangen sich zu einer Sehnsucht vereinten, die ihm messerscharf ins Herz fuhr.
Vielleicht hatte er diese Empfindungen bei Emily nie gehabt. Mit ihr war alles leichter gewesen. Sie hatten den gleichen gesellschaftlichen Hintergrund gehabt. Er war ein vielversprechender junger Mann gewesen, Emily eine wohlerzogene Tochter aus bester Familie. Es hatte keine Herausforderungen, kein Hindernis gegeben. Nur die Liebe, in der sie ein paar Jahre lang schwelgten, sorglos wie zwei Turteltauben, bis Emily ihm plötzlich entrissen worden war.
Und jetzt begegnete ihm die Liebe ein zweites Mal, und alles war anders. Er war ein anderer Mensch geworden. Er hatte die Bedeutung von Liebe und Verlust schmerzhaft kennen gelernt. Nichts an seinen Gefühlen für Mary war einfach. Nichts war einfach an der Situation. Sie sehnte sich danach, dass er für das Kind seines Rivalen die Rolle des Vaters übernahm. Sie hielt ihn für stärker und edelmütiger, als er es je sein würde. Sie glaubte an ihn. Er versuchte ihr zu beweisen, dass er ein verbitterter, selbstsüchtiger Mann war, der ihre Zuversicht und ihr Vertrauen nicht verdiente. Aber sie ließ nicht locker.
Erst als ihm die Kälte bis in die Knochen drang, ging er ins Haus. Mary saß wieder auf der Bank vor dem Feuer und hielt ihr Baby im Arm. Jesse legte Holz nach, setzte die Brille auf und nahm das Buch zur Hand, das er gerade las - einen französischen Roman, der vor kurzem erschienen war. An den Abenden, wenn er keine Wache hatte, wie heute Nacht, wusste er nicht recht, was er mit sich anfangen sollte. Meist las er eine Weile, bis Mary ihm Gute Nacht wünschte und sich mit dem Kind in ihre Kammer zurückzog.
„Jesse?"
„Ja?"
„Tust du mir einen Gefallen?" Sie räusperte sich und wartete, bis er sich ihr zuwandte. „Würdest du mir Lesen und Schreiben beibringen?"
Sie versetzte ihn immer wieder in Erstaunen.
„Lesen und Schreiben."
„Ja, ich möchte es lernen. Ist es schwer?"
„Ich bin kein Lehrer. Warum willst es gerade jetzt lernen?"
„Ich will damit anfangen." Sie stellte die Füße auf einen Schemel, legte das Baby auf ihre Schenkel und schaukelte es ein wenig.
„Jetzt gleich?" fragte Jesse.
„Warum eigentlich nicht?" Sie blickte verträumt in die großen blauen Augen des Kindes. „Ich will Davy eines Tages Geschichten vorlesen."
Sie erwartete also nicht, dass er ihrem Sohn Geschichten vorlesen würde. Recht hatte sie.
„Ich kann ihm natürlich Geschichten erzählen", fuhr Mary fort. „Ich erinnere mich an alle Geschichten, die Mama uns erzählt hat. Aber ich möchte ihm auch etwas vorlesen. Wirst du mir helfen?"
Widerwillig trat er an das Bücherregal, nahm einen alten, zerlesenen Band zur Hand und setzte sich neben Mary.
„Das war mein Lieblingsbuch, als ich klein war." Er schlug die erste Seite auf. ,„Frohe Weihnachten wünschen dir deine Großeltern'", las er die Widmung. „Ich war vier, als ich es geschenkt bekam."
„So lange ist das her? Und wovon handelt es?"
„Es sind Kurzgeschichten. Meine Lieblingsgeschichte heißt ,Abenteuer in einer Höhle'."
„Liest du sie mir vor?"
„Jetzt?"
„Ja, jetzt."
Jesse schob die Brille höher und begann zu lesen. Er hatte das seltsame Gefühl, die Situation schon einmal erlebt zu haben. Und irgendwie stimmte das auch. Er erinnerte sich lebhaft daran, wie sein Vater sich zu ihm
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