Leuchtfeuer Der Liebe
ans Bett gesetzt und aus diesem Buch vorgelesen hatte. Vielleicht liebte er das Buch deshalb so sehr. Nicht weil die Geschichten besonders gut waren, sondern weil ihn damit glückliche Erinnerungen an seine Kindheit verbanden.
Und nun teilte er die Erinnerungen mit Mary und ihrem
Kind. Er wusste nicht, wie lange er gelesen hatte, als er bemerkte, dass der Kleine eingeschlafen war.
Er las weiter, bis er spürte, wie Marys Kopf an seine Schulter sank. Er saß ganz still, atmete den Duft ein, der ihrem Haar entströmte, und den süßlichen Geruch nach Milch und Seife des Babys.
Ein befremdliches Glücksgefühl stieg in ihm auf, das ihn erschreckte. Er legte das Buch beiseite und nahm Mary das Baby ab. „Kommt ihr zwei", flüsterte er, „ins Bett mit euch."
Sie murmelte etwas, als er sie bei der Hand nahm und in die Kammer führte. Bevor ihm klar wurde, was er tat, küsste er erst sie und dann das Baby auf die Stirn.
Er floh aus der Kammer, hastete die Stiege hinauf in sein Schlafzimmer und schloss die Tür. In der Eile hatte er keine Kerze mitgenommen. Nun stand er im Finstern gegen die Tür gelehnt und atmete in tiefen Zügen, um seine Fassung wiederzugewinnen, um zurückzukehren zu dem gefühlskalten Fremden, zu dem das Leben ihn gemacht hatte.
Als er hörte, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde, machte er einen erschrockenen Satz. Und dann stand Mary auf der Schwelle, das Baby im Arm. In der anderen Hand hielt sie eine flackernde Kerze. Sie trug ein Nachthemd, das Haar fiel ihr lose über die Schultern.
„Ist etwas nicht in Ordnung?" fragte Jesse.
„Ja."
„Was ist? Bis du krank oder ..."
„Nein, nichts dergleichen." Sie sah ihn flehend an. „Wir wollen nicht mehr unten schlafen. Wir wollen in deinem Bett schlafen, Jesse."
„Das Bett ist zu schmal", wehrte er ab.
Sie sah ihn traurig an. „Nein, es ist nicht zu schmal."
„Wenn ich mich im Schlaf umdrehe, könnte ich das Kind erdrücken."
„Red keinen Unsinn." Eine Weile blickte sie ihn eindringlich an, dann ließ sie die Schultern hängen. „Du meinst es also ernst, nicht wahr? Du willst uns nicht bei dir haben."
Er sagte nichts. Wenn er versuchte, ihr seine Gefühle zu erklären, würde er sie nur noch mehr verletzen.
Unvermittelt drehte sie sich um und ging die Stiege wieder hinunter. Er horchte auf ihre Schritte, bis sie die Tür ihrer Kammer schloss.
Erst dann ließ er die Luft, die er angehalten hatte, in einem langen Atemzug aus seinen Lungen. Er wusste plötzlich nicht, ob die Liebe ihm qualvollere Schmerzen bereitete oder der Verzicht.
Der größte Schmerz aber war, Mary wehtun zu müssen.
Sie sollte einfach gehen. Sie sollte nicht bleiben und sich von ihm quälen lassen. Törichte Frau. Sie forderte Dinge von ihm, die er ihr nicht geben konnte. Sie hielt ihn für so viel besser, als er in Wirklichkeit war. Und das führte zwangsläufig zu Enttäuschungen und Leid.
Am nächsten Morgen erwachte er mit einem Plan und schüttelte seine Zweifel ab.
20. KAPITEL
M ary schuftete im Haus wie eine Besessene, schrubbte die Böden, wischte Staub, putzte und zerkleinerte Gemüse, buk Brot und ließ ihre Wut an dem un schuldigen Teig aus, den sie mit Fäusten bearbeitete. Doch das alles reichte ihr noch nicht. Sie wickelte Davy in eine Decke, trug ihn in den Garten und bettete ihn auf Kissen in eine Schubkarre, nahm die Hacke zur Hand, lockerte die Erde auf und riss wütend Unkraut aus. Dabei beschwerte sie sich lautstark bei Davy.
„Der Mann hat Nerven! Eine Frechheit, uns in die Kammer zu verbannen", empörte sie sich. „Und verschwindet einfach grußlos in aller Herrgottsfrühe. Ehrlich, mein Junge. Dein Pa muss noch eine Menge lernen."
Aber sie hütete sich, ihre Gefühle für Jesse laut auszusprechen. Sie sehnte sich nach seinen Umarmungen, seinen Küssen und wusste nicht, ob sie ihm je wieder so nah sein würde.
„Dieser Mistkerl", wetterte sie. „Der kann was erleben, wenn er nach Hause kommt, das verspreche ich dir."
Sie arbeitete wütend, schnitt die welken Pflanzen zurück, säuberte die Beete und bereitete sie für den Winter vor. Sie schnitt die Rosen herunter und bedeckte die Wurzelstöcke mit Erde und Holzspänen. Eine Schar Wildgänse zog schnatternd über das Haus gen Süden in wärmere Klimazonen.
Der Kreislauf der Natur vollzog sich in einem sich stetig wiederholenden, verlässlichen Rhythmus wie ein langsames Uhrwerk. Sie könnte so glücklich hier sein, wenn Jesse nur die Mauer einreißen würde,
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