Leuchtfeuer Der Liebe
Größer, breitschultriger als er. Und weitaus Furcht einflößender.
Das Licht beleuchtete ihn von hinten, sie sah nur seine Silhouette, was genügte, um ihr Angstschauder über den Rücken zu jagen. Breite Schultern, kraftvolle Arme unter hochgekrempelten Hemdsärmeln. Zu langes, ungezähmtes Haar wehte wie eine Mähne hinter ihm her.
Er war der Mann, der auf sie geschossen hatte. Ohne auf den pochenden Schmerz in ihrer rechten Schulter zu achten, machte sie das Kreuzzeichen. „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte steh mir bei."
Sie hörte das Aufflammen eines Schwefelholzes, dann verbreitete eine Öllampe auf einem Wandbrett fahles Licht. Einen kurzen Moment wurde das Gesicht ihres Gefangenenwärters in Gold getaucht, jede Einzelheit wurde sichtbar wie ein Bild in einer Kirche.
Das Bild eines Engels der Finsternis. Seine blauen Augen strahlten eisige Kälte aus, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Eine hohe, edle Stirn über dichten Brauen. Ein schön geschwungener Mund. Der Engel der Finsternis wandte sich ab und sprach. „Sind Sie wach?"
Sie kroch tiefer unter die Decken und hielt sie unterm Kinn fest. „Und wer will das wissen?"
Er schaute sie verblüfft an, als seien ihr Hörner gewachsen. „Haben Sie Angst vor mir?"
Seine Frage versetzte sie in der Zeit zurück, zurück an einen Ort, dem sie unter Lebensgefahr entflohen war. Hab keine Angst. Zwing mich nicht, dir wehzutun.
Wimmernd kroch sie völlig unter die Decke und zog die Knie an. Es war warm unter der Decke, doch sie konnte nicht aufhören zu zittern. Wohin war sie nur geraten? An welchen grauenvollen Ort? Dabei war sie an einem Punkt in ihrem Leben angekommen, an dem sie sich nur nach Sicherheit und Geborgenheit sehnte.
„Ma'am?" Die Stimme des Fremden war leise, unschlüssig, mit einem Anflug von Gereiztheit.
Kein Mensch hatte sie je „Ma'am" genannt wie eine feine Dame. Dieser Dummkopf, dachte sie. Sah er das nicht?
Jesse kam sich vor wie ein Idiot, mit der Lampe in einer Hand, die andere ausgestreckt nach dem zitternden Hügel unter der Bettdecke. Zum Teufel mit der Frau. Konnte sie sich nicht entscheiden, aufzuwachen oder weiterzuschlafen?
Heute Nacht versah Erik die Wache auf dem Leuchtturm. Auf den Burschen war Verlass, er drehte die Zahnräder alle vier Stunden, so wie Jesse es ihm beigebracht hatte. Dennoch überließ er Erik die Wache nur in ruhigen, klaren Nächten.
Am frühen Abend war Jesse an den Rand des Felsvorsprunges getreten, hatte lange in die Ferne geblickt, den Wind und die Seeluft eingeatmet und den Abendhimmel in der roten Glut des Sonnenuntergangs beobachtet.
Man sagte ihm nach, seine exakten Wettervorhersagen seien eine mystische Gabe, dabei waren sie nur auf seine langjährige Erfahrung zurückzuführen. Er hatte gelernt, die Stimmung der See und der Wolken zu erkennen. Der wichtigste Grundsatz im Krieg lautete, seinen Gegner zu kennen. Er hatte seinen Gegner genau studiert. Im unteren Raum des Leuchtturms bewahrte er eine Sammlung von Instrumenten auf, um die ihn jeder Wissenschaftler beneidet hätte - Instrumente zur Bestimmung der Gestirne, Quadranten, Barometer und andere Messgeräte.
Seine gewissenhaften Eintragungen ins Logbuch brachten ihm bei jeder Inspektion die Anerkennung des Bezirksinspektors ein, wobei es Jesse keineswegs darum ging, Lob zu ernten.
Anfangs hatte er sich durch seinen Fleiß Erlösung erhofft. Doch nach zwölf Jahren hatte er die Hoffnung auf Erlösung aufgegeben. Mittlerweile ging es ihm nur ums Überleben .
Bedächtig stellte er die Lampe ab und blickte ratlos auf den Deckenberg. Heute Nacht wollte er ausschlafen. Stattdessen stand er hier, hellwach und ratlos, und blickte mürrisch auf die Unbekannte aus der See.
Palina hatte vorhin noch einen gesteppten Quillt und einen Topf Fleischbrühe vorbeigebracht. Nun stellte er eine Schale heißer Suppe auf den Nachtkasten. „Ma'am?" sagte er leise. „Sie sollten etwas essen."
Keine Antwort. Jesse presste die Lippen aufeinander und zog unbeholfen die Decke ein wenig zurück. Darunter kamen ein zerzauster Haarschopf und eine erhitzte Wange zum Vorschein. „Ma'am?" Seine Stimme klang ungeduldig.
Sie stöhnte und zitterte wieder, dann drehte sie den Kopf zur Seite, ohne die Augen zu öffnen. Sie hatte sich wieder in einen Dämmerschlaf zurückgezogen.
„Dumme Person", murrte Jesse. „Wenn Sie nicht essen, kommen Sie nicht auf die Beine." Er breitete Palinas bunten Quillt über die Frau.
Sie bewegte sich, und
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