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Leute, das Leben ist wild

Titel: Leute, das Leben ist wild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Hennig Lange
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hat sie gestern offen gelassen, in den Fächern liegen ihre sauber zusammengelegten Totenkopf-T-Shirts, schwarze Röhrenjeans und zusammengezogene Diddl-Socken in rosaorange. Meine Alina. Auf der Fensterbank steht ihr Schmuckkästchen mit all ihren silbernen Ketten, Ohrringen und Nietenarmbändern. Neben mir auf der geblümten Überdecke liegen die Einzelteile ihres zerstörten Handys. Ich weiß gar nicht, was ich damit machen soll. Einfach wegschmeißen? Wieder zusammensetzen? In den Fluss werfen? Mit ins Grab legen?
    Ich hole tief Luft und beiße die Zähne fest zusammen, damit ich nur nicht wieder losweine. So, wie während der vergangenen Nacht. Keine Sekunde habe ich geschlafen. Mama hat neben mir gelegen und mich fest in den Arm genommen. Nicht weinen, Lelle. Nur nicht schon wieder
weinen. Sonst wird alles noch schlimmer. Schlimmer als was? In ein paar Tagen wird meine beste Freundin beerdigt.
    Wisst ihr, was das heißt?
    Für immer unter die Erde. In einem Sarg. Ohne Sauerstoff. Gerade war sie doch noch hier. Ich verstehe das alles nicht. Unaufhaltsam quellen mir die Tränen aus den Augen, rinnen über mein Gesicht, zwischen die Mundwinkel, über den Kiefer und tropfen auf meine Hände. Kann ich denn gar nichts unter Kontrolle haben?
    Mama zwängt sich durch den Türspalt zu mir herein und lächelt zaghaft. »Hier bist du, mein Kätzchen. Ich hab dich schon überall gesucht. Willst du nicht mal was essen? Ich habe Pfannkuchen gemacht.«
    Ich schüttele den Kopf. »Nein, danke.« In mir, da ist diese unfassbare, grenzenlose Trauer. Sie kämpft sich aus der unendlichen Tiefe, durch meine Brust, den Hals, nach oben, um mich ganz und gar zu packen. Aber ich schlucke sie immer wieder runter. Das kostet so immens viel Kraft. Und doch quillt sie immer wieder in meinen Kopf.
    Sanft setzt sich Mama neben mich und streicht mir ruhig und tröstend über den Rücken. Heute trägt sie ihr Sommerkleid mit der Blumenstickerei auf der Brust und um den Kopf hat sie sich ein Geschirrtuch gebunden, das macht sie immer, wenn sie kocht. »Alles in Ordnung?«
    »Hm?«
    Ich höre Alina einen ihrer trockenen Scherze machen, sehe sie vor mir, wie sie breit grinst und dabei ihre feste Klammer zeigt. Ich sehe sie, wie sie mit ihren hochgestellten Haaren durch unseren verwilderten Garten schlurft und in ihr Handy brüllt: »Ich kann jetzt nicht!« Ich erinnere mich, wie sie im letzten Sommer, im strömenden Regen,
am Fluss auf dem abgesägten Baumstumpf hockt, eine Zigarette nach der anderen raucht und mich nicht angucken mag, weil sie etwas mit Johannes angefangen hat, während ich in der Klinik war. Mit ihrem Totenkopf-Van scharrt sie in der mulchigen Erde, und ihre damals noch blondierten Haare kleben ihr feucht am Kopf. Die schwarze Röhrenjeans hat im Oberschenkel ein reingeschnittenes Loch, in dem sie mit dem Zeigefinger herumbohrt. Ich setze mich neben sie und sage: »Scheiße, Alina, scheiße!« Sie schnieft. »Ja, Lelle, da hast du recht. Es tut mir leid.«
    Vorsichtig stelle ich das Foto wieder zurück auf das Nachttischchen, aber meine Hände zittern so sehr, dass es umkippt und das Glas bricht.
    Mama beugt sich vor und stellt es für mich hin, jetzt teilt ein Sprung das Bild. Er verläuft exakt zwischen Alina und mir. Sie flüstert: »Alinas Eltern kommen gleich.«
    Ich nicke.
    »Sie holen ihre Sachen ab. Willst du sie zusammenpacken?«
    Ich nicke wieder, obwohl ich gar nicht weiß, was das genau bedeutet, nur, dass ich die Eltern nicht sehen will. Ich frage mich, ob sie ihre beiden Yorkshireterrier mitbringen und ihre tannengrünen Jogginganzüge anhaben, die, die sie immer anhaben, wenn sie zu Hause vor dem Fernseher hocken und ihre Volksmusiksendungen sehen.
    Mama seufzt und ihre Stimme klingt ganz matt. »Ich hätte sie besser im Blick haben müssen, so, wie ich Cotsch und dich früher immer im Blick hatte. Aber ich dachte, ich lasse Alina mal ein bisschen Freiraum.«
    Ich lege ihr meine Hand aufs Knie, meine Augen füllen sich wieder und wieder mit brennenden Tränen. Meine Lippen zittern. »Nein, Mama. Sag das nicht.«

    Und schon sehe ich wieder Alina im Englischunterricht. Sie dreht mir ihr müdes Gesicht zu. »Ich bringe mich um.« Mama trifft keine Schuld. Wenn eine Mutter sich ständig Sorgen gemacht hat, dass sich ihre Töchter etwas antun könnten, dann war das Mama. Sie hat so gut auf Cotsch und mich aufgepasst, dass es echt erdrückend wurde. Und dieses eine Mal hat Mama sich weggedreht, hin zu diesem

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