Leute, das Leben ist wild
Freestyle-Fighter Samuel, und alles ist aus dem Ruder gelaufen.
»Du kannst nichts dafür, Mama.« Ich versuche nicht zu weinen, aber nun zittert auch noch mein Kinn so stark, als hätte es einen eingebauten Motor. Mir ist kalt, ich stelle meine nackten Füße übereinander und fühle den Teppichboden überdeutlich unter den Sohlen, als würde ich ganz in den weichen Flauschfäden versinken. Mama räuspert sich. Sie will etwas sagen, doch ihr Mund bleibt offen stehen, ohne dass ein Laut herauskommt. Irgendwann schließt sie die Lippen wieder und nickt vor sich hin. Ich murmle: »Ich hätte es verhindern können, wenn ich Alina mal ernst genommen hätte.«
Jetzt schüttelt Mama heftig den Kopf. »Hör auf damit!«
»Warum? Stimmt doch! Schließlich hat sie oft genug gesagt, dass sie sich umbringen will.«
»Cotsch und du habt mir früher auch dauernd damit gedroht, und wenn ich mir dann Sorgen gemacht habe, habt ihr mich ausgelacht.«
Das stimmt leider. Meine Schwester und ich haben Mama oft mit dieser grausamen Behauptung in die Verzweiflung getrieben. Aber innen drin wussten wir, egal, wie unglücklich wir waren, dass wir doch zu sehr an unserem Leben hängen. Und wenn Mama dann vor Sorge ausgeflippt und in Hausschuhen aufs Rad gesprungen ist,
um uns irgendwo wieder aufzulesen, haben wir sie ausgelacht und nicht fassen können, wie sie ernsthaft glauben konnte, dass wir uns was antun. Vermutlich ist es echt Cotschs und meine Schuld, dass es mit Alina nun so weit gekommen ist. Wir haben Mama mit zu oft geäußerten Selbstmordgedanken abgestumpft. Ich flüstere: »Tut mir leid, Mama.«
Irgendwie ziehe ich aber auch die Leute an, die lebensmüde sind. Vielleicht, weil ich diesen Zwiespalt in mir trage. Wie damals meine Zimmermitbewohnerin Simona, die sich in der Klinik in meinem Beisein die Pulsadern aufgeschnitten hat. Und darum hätte ich es doch jetzt spüren müssen, dass Alina es ernst meint.
Meine Mutter macht so eine Bewegung mit der Hand und lächelt tapfer. »Wir müssen zusammenhalten, Lelle.«
»Ja.«
»Wir haben nur uns.«
Da hat sie recht. Wenn wir alle gehen, sind wir ganz allein. Ich stehe vom Bett auf und stelle mich ans Fenster. Ich gucke raus, in die feine Verästelung der Felsenbirne. Welcher Ordnung folgen die Zweige, die Bienen, die sich in ihren Blüten niederlassen? Welcher Ordnung ist Alina gefolgt, als sie zum Fluss hinunterging? Ich habe doch schon ein lebensmüdes Mädchen gerettet, hätte ich dann nicht auch Alina retten können? Welcher Ordnung folge ich, wenn ich einem Mädchen das Leben rette und meiner besten Freundin nicht? Ich lehne meine Stirn gegen die kühle Glasscheibe und sehe aus den Augenwinkeln hinüber zum verschlossenen, schwarz eingebundenen Tagebuch, das auf dem Schreibtisch liegt. Darunter steckt ein gefalteter Karozettel.
Okay.
Ich ziehe ihn hervor. Er ist dicht mit Alinas Schrift beschrieben. Damit setze ich mich auf den Schreibtischstuhl. Ich glaube, es ist besser, wenn ich ihn im Sitzen lese. Über jedem »i« hat Alina statt eines Punktes einen kleinen Kringel gemalt. Das fand sie schick. Ich sehe ihre großen Augen mit den langen gebogenen Wimpern, wie sie neben mir in der Schule am Tisch sitzt und mit dem Füller wieder einen Kringel als i-Punkt malt.
Ich reibe meine Hände aneinander und knete sie, damit sie warm werden. Dann falte ich den Zettel auseinander, die Sonne blendet auf dem weißen Kästchenpapier. Meine Augen brennen, meine Knie zittern vor Anspannung.
Mama steht vom Bett auf, kommt zu mir herüber und tritt hinter mich. Sie kniet sich neben mich und legt mir den Arm um die Schulter. Sie flüstert: »Was hast du da?«
»Einen Zettel von Alina.«
»Woher hast du den?«
»Lag hier unter ihrem Tagebuch.«
In roter Schrift steht ganz oben »Abschiedsbrief«. Das Wort ist zweimal sorgfältig unterstrichen, so, als würde es sich dabei um einen Aufsatz für die Schule handeln. Sogar das Datum hat Alina danebengeschrieben. Ich schlucke. Vorgestern hat sie den Zettel geschrieben. Sie muss es gewusst haben. Den ganzen gestrigen Tag über wusste sie, was sie vorhatte. Sie wusste, dass sie nicht mehr lange leben würde. Sie wusste, dass Mama und ich heute hier sitzen würden. Sie wusste, was wir fühlen würden. Alina! Warum? Mama atmet tief ein. Das gelochte Papier vibriert in meiner Hand. Tränen fallen darauf und die blaue Tinte verwischt. Ich kann nicht, Leute. In mir, da ist dieser grenzenlose Schmerz. Ich reiche den Brief an Mama
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